VII. Einsamkeit
VII.1. Stilleben gegen die Schlaflosigkeit
Der Besuch Gauguins in Arles, den van Gogh so sehr ersehnt hat, erweist sich für ihn als verhängnisvoll. Trotz aller Bemühungen um ein gutes beiderseitiges Einvernehmen, vor allem seitens des Holländers, zeigt sich schon bald nach der Ankunft eine unüberbrückbare Kluft zwischen den beiden Malern, sowohl was ihre jeweilige künstlerische Programmatik betrifft, als auch das einfache persönliche Miteinander. Gauguin malt gerne in Ruhe zu Hause im Atelier, aus der Erinnerung, während van Gogh die Inspiration der unmittelbaren Ansicht des Motivs beim Malen braucht und dabei jede Widrigkeit der Witterung in Kauf zu nehmen bereit ist. Van Goghs Neigung zur Emphase, zur Schwärmerei, ja, wenn es sein muß, zur bohrenden Insistenz steht Gauguins Abge- klärtheit gegenüber, ja seine Lustlosigkeit, die er gegenüber dem Freund bis zum Zynismus treibt. Der Franzose fühlt sich in Arles und im Gelben Haus nicht wohl, und über kurz oder lang läßt er es seinen Gastgeber wissen, wird dabei um so deutlicher, je weniger dieser es wahr haben will.
Die Lage wird für beide zunehmend aussichtslos. Gauguin ist mittellos und weiß nicht wohin. Im Gelben Haus stehen ihm wenigstens Unterkunft, Verpflegung und ein Atelier zur Verfügung. Van Gogh hin- gegen spürt, wie sein Traum von der „Werkstatt des Südens“, der ihn den ganzen Sommer über beschäftigt hat und in dem der Franzose einen so entscheidenden Platz einnehmen sollte, in seinen Fingern zerrinnt.
Wie die zwei Monate währende Künstlergemeinschaft der beiden Maler endet, während der keiner von ihnen persönliche Meisterwerke geschaffen hat, ist hinreichend bekannt: am 23. Dezember 1888 erleidet van Gogh einen ersten paranoiden Anfall und schneidet sich mit einem Rasiermesser ein Ohr ab. Anschließend bringt er es ins Bordell und überreicht es dort seiner Geliebten. Gauguin packt, als er davon erfährt, seine Koffer und reist am nächsten Morgen ab.
Zwei Wochen später wird Vincent van Gogh aus dem Krankenhaus in Arles entlassen. Mit einem dicken Verband um den Kopf kehrt er in das nun wieder leere Gelbe Haus zurück. Er beginnt zu malen – Stilleben. Mit einer nicht sehr großen Leinwand auf der Staffelei setzt er sich seinem Zeichenbrett gegenüber, auf dem er eine Reihe von Gegen- ständen arrangiert hat. Alles was hier liegt, ist tatsächlich in van Goghs Zimmer vorhanden, aber alles ist in dem Gemälde zugleich Symbol.
Die Pfeife und etwas Tabak sind vorn im Bild zu sehen, seine Trostspender, wie er dem Bruder einmal geschrieben hat. Rechts da- neben liegt, verkehrt herum, ein Briefumschlag, auf dem aber dennoch der Adressat Vincent und der Absender Theo van Gogh zu erkennen sind. Auf den Rand des Umschlags ist ein abgebranntes Zündholz gelegt, und tatsächlich, die Kerze am rechten oberen Bildrand brennt. Sie brennt wieder, der Lebenswille ist noch nicht erloschen. Vor der Kerze die Streichholzschachtel und daneben eine Stange Siegellack. Der Maler wird also auch zurückschreiben.
Vor allem aber gilt es, die Gesundheit wiederherzustellen. Die leere Weinflasche am linken unteren Bildrand ist Programm: die Exzesse werden ein Ende haben. Die Teekanne oben, hinter dem Zeichenbrett, weist jetzt den Weg. Aber was tun gegen die Schlaf- losigkeit, die langen, einsamen, qualvoll wachen Nächte? Der Maler hat im Annuaire de la santé nachgeschlagen, das ebenfalls auf dem Zeichenbrett liegt. Zwiebeln sind das Mittel, das der Autor darin verschreibt. Und so steht im Zentrum des Bildes ein weißer Teller mit zwei großen, noch ungeschälten Zwiebeln darauf. Eine weitere große Zwiebel liegt links davon auf dem Brett und eine vierte, kleinere auf der Annuaire selbst.
Das Gelb des Zeichenbretts ist blaß. Der Hintergrund: ein blasses helles Blau. Grün zieht sich von der leeren Flasche über die Blätter der Zwiebeln bis zum Teekessel als Diagonale über das Bild. Das notwendige Rot zu seinem Komplementärkontrast ist als schwa- ches Rosa im Einband des Buches gegeben.
Der Maler hält Maß. Nur die Maserung des Zeichenbretts tritt in dickem Farbauftrag plastisch hervor – und auf ihm der Tabaksbeutel.
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