X. Der gotische Lettner und das Fest zu Ehren des Esels
Bevor wir uns mit dem Lettner in ein Münster zurückbegeben, wie es im Mittelalter aussah - denn dieser ursprüngliche Bestandteil der Innenausstattung existiert heute nicht mehr -, soll kurz die äußere Gestalt des Vierungsturms nachtragen werden. Auch er hat im Laufe der Zeit Veränderungen erfahren. Gegen Ende des 13. Jahrhunderts wurde über der Kuppel ein Faltdach mit nur sehr schwach geneigten Firstlinien errichtet. Auf alten Stichen ist zu erkennen, daß die acht Dreiecksgiebel steil nach oben geführt und mit Maßwerk, Krabben und Kreuzblumen dekoriert waren. Über dem zentralen, hoch aufragenden Dachreiter stand eine gleißende Marienfigur.
Dieses gotische Faltdach wurde aber bei einem Brand im Jahre 1759 zerstört. Der heutige Zustand des dreigeschossig gegliederten Vierungsturms geht nur noch in seinem untersten Geschoß, einem offenen Laufgang, der von einer auf Säulen gestellten Rundbogenarkade gebildet wird (sog. "Zwerggalerie") und in dessen Höhe die kleinen Kuppelfenster liegen, auf den Originalzustand zurück. Die Arkade aus großen, abgeflachten Spitzbögen des etwas zurückspringenden Geschosses darüber, die rundbogige Blendarkade des dritten Geschosses und das achtseitige Zeltdach wurden im 19. Jahrhundert erbaut.
Die wenigsten Bischofskirchen verfügen heute noch über einen Lettner, obwohl ein solcher im Mittelalter in praktisch allen von ihnen vorhanden war. Es handelte sich dabei um hohe Wände, durch die der Chor vom Laienbereich, also hier dem Lang- und Querhaus, optisch vollkommen abgetrennt war. Es fällt uns schwer, uns dies heute vorzustellen: dem Laien war der Blick auf den Altar und die dort vollzogen heiligen Handlungen niemals möglich, genauso wenig wie etwa auf das Chorgestühl - und die hier versammelten Kleriker - oder den Bischofssitz.
Der steinerne Lettner des Straßburger Münsters war vor die Vierung in das erste Joch des Langhausmittelschiffes gestellt. Er hatte die Form einer rechteckigen Bühne, deren Fußboden fünf Meter über demjenigen des Langhauses lag und dessen rückwärtige Ecken sich an die Vierungspfeiler anlehnten. Diese Bühne war vom Chor aus über zwei schmale Treppen erreichbar und oben von einer maßwerkdurchbrochenen Brüstung umgeben. Der Unterbau des Lettners bestand als Folge von sieben kreuzrippengewölbten Jochen, die sich zum Langhaus hin in der Art einer Arkade öffneten. Die Arkadenspitzbögen waren mit Maßwerk ausgefüllt und mit Wimpergen überfangenen. Im mittleren Joch war der Volksaltar aufgestellt, die übrigen beherbergten weitere, einzelnen Heiligen geweihte Altäre und hinter Türen die Zugänge zu Chor und Krypta.
Der Straßburger Lettner muß, wie alte Stiche zeigen, aber auch die Überreste davon, die im Musée de l'Œuvre Notre-Dame ("Frauenhaus-Museum") ausgestellt sind, von großem künstlerischem Wert gewesen sein. Zwischen den Wimpergen waren lebensgroße Skulpturen der zwölf Apostel aufgestellt, auf Konsolen mit Höllenhunden und unter Baldachinen, die kleine Modelle idealisierter Kirchengebäude formten. Die Arkadenpfeiler waren mit ziselierten Blattwerkkapitellen versehen, und in den Giebelfeldern unter den Wimpergen stellten Reliefs die Werke der Barmherzigkeit dar. Das Kernstück aber bildete die sog. Rosenstrauch-Madonna, ein in seiner Bildtypologie originäres Werk: das Kind befindet sich hier nicht im körperlichen Kontakt mit der Mutter, sondern liegt auf einem neben ihr emporwachsenden Rosenstrauch.
Der Lettner, um den herum sich die für das Volk bestimmten Messen abspielten, war farbig bemalt und mit Blattgold beschlagen. Er hatte aber noch eine weitere Besonderheit: er war über einen Gang mit dem begehbaren Dach der sog. Marienkapelle verbunden, einem von dem berühmten Baumeister der Westfassade, Erwin von Steinbach, im Jahre 1316 auf quadratischem Grundriß erbauten Häuschen, das sich an den ersten der nördlichen Langhauspfeiler anlehnte und somit zwischen Lettner und Kanzel stand. Beide, Lettner und Marienkapelle, wurden im Jahre 1682 abgerissen, ein Jahr nachdem Ludwig XIV. von der Stadt Besitz ergriffen und das Münster rekatholisiert hatte.
Schirmte der Lettner einerseits den Chorbereich visuell, akustisch und auch gegen Kälte und Zugluft ab, und ermöglichte er damit den Domherren ein weitgehend ungestörtes Beten, so bot er andererseits auch einer Vielzahl von Altären Platz, die nicht nur in der zum Langhaus offenen Arkade, sondern auch auf der Bühne, in Richtung zum Chor aufgestellt waren. Eine große Zahl von Heiligenaltären aufzustellen war im Mittelalter sehr beliebt, wir wissen dies sogar schon von der karolingischen Vorgängerkirche. Mit ihnen ließ sich eine Fülle von verschiedenen Prozessionen in der Kirche begehen und das Kirchenjahr abwechslungsreich ausfüllen.
Auch bei einem Kirchenfest, das uns heute völlig undenkbar erscheint, spielte der Lettner eine wichtige Rolle. Das alljährliche Eselsfest, am Abend des 24. Dezember, unserem Heiligen Abend begangen, verhalf den ehrwürdigen Münsterhallen zu alles anderem als einer "Stillen Nacht"; bildete es doch den Auftakt zu jener Abfolge von Narrenfesten, mit denen die Zeit zwischen Weihnachten und Dreikönigstag belebt war, und die für nicht wenige der Gläubigen den wahren Höhepunkt des Kirchenjahres darstellten. An diesem ersten närrischen Tag also wurde, vor zahlreich und in bester Festlaune erschienenem Publikum, ein Esel, als Bischof verkleidet, durch das Kirchengebäude geführt. Unter dem Gejohle der gläubigen Masse stellte man ihm allerlei dumme Fragen, die er stets mit einem lauten "Iaahh" zu beantworten hatte, notfalls, indem ihm die begleitenden Meßdiener kräftig am Schwanz zogen. Vom Sängerpult des Lettners gingen währenddessen, genau wie bei den anderen, ernsteren Kirchenprozessionen, feierliche Liturgien aus, gehalten in lateinischer Sprache. Aber diesmal bestanden sie doch nur aus lauter Albernheiten:
Orientis partibus
adventavit asinus,
pulcher et fortissimus,
sarcinis aptissimus
Hez! Hez Sire Asnez, hez!
"Hez Sire Asnez, hez!" grölte das Volk nach, während der Vorsänger die Hand hob und scheinbar ungerührt weiterpsalmodierte:
Habemus episcopum!
Episcopum stultorum!
Episcopum follorum!
Sicherlich war, verkleidet wie immer, auch der wahre Bischof bei dieser Zeremonie zugegen; über die stillen Gedanken jedoch, von denen er während dieser Prozession vielleicht gepeinigt wurde, ist nichts auf uns gekommen. Wie auch immer: spätestens nach den feierlichen vorgetragenen Worten
Vinum bonum cum sapore
bitit abbas cum priore
...
wird wohl auch er nicht weiter zugehört
(...
et conventus de peiore
bibit cum tristicia.)
sondern sich statt dessen ganz auf den sinnesfrohen Ausklang des Festes eingestellt haben - eines Festes, bei dem auch an das einfache Volk deutlich mehr Wein ausgeschenkt wurde, als sonst in diesem Gotteshause üblich. Die ausgelassene Stimmung breiter Bevölkerungskreise konnte sich daher - getreu den in der Kirche an diesem Abend vernommenen Leitsätzen - bis in die tiefsten Gassen der Altstadt und in die dunkelsten Stunden der Nacht hinein fortsetzen:
Felix venter quem intrabis,
felix quicquid tu rigabis,
felix lingua, quam lavabis,
a beata labia.
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