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Roland Salz                                                                      
                                                                      Meditationen über Architektur

XIX. Das Innere des Langhauses

 

Wir haben bereits von den im Vergleich zu den französischen Kathedralen großen Ausmaßen der Joche im Langhaus des Straßburger Münsters gesprochen. Dies betrifft sowohl die Jochlänge (Ost-West-Ausdehnung), als auch die Breiten von Mittel- und Seitenschiffen. Es führt dazu, daß der Innenraum des Münsters auf den Betrachter weit, getragen und ruhig wirkt. Eine enge Steilheit und Höhe ist diesem Kirchenraum fremd.

          Der Wandaufbau des Mittelschiffes folgt dem Grundschema der französischen Gotik, mit einer Arkadenzone, einem gleichhohen Obergaden und dazwischen dem Triforium. Arkaden-Scheidbögen und Hochschiff-Schildbögen sind gleichartig. Das Triforium ist, wie bei den fortgeschrittenen französischen Kathedralen, hinterfenstert. Möglich wird dies, weil die Seitenschiffe nicht mehr wie ursprünglich üblich mit Pultdächern überdeckt sind, sondern mit Satteldächern. In die Wandflucht der Scheid- und der Schildbögen ist jedem Joch des Triforiums eine Maßwerkarkade eingestellt, deren vier Spitzbögen mit denjenigen der Hochschiffenster korrespondieren. Jedem dieser Triforienbögen ist in der Spitze ein großer, nicht von einem Kreis eingefaßter Vierpaß eingeschrieben. Darunter teilt sich der Bogen in zwei Lanzetten, die jeweils oben mit einem Dreipaßbogen abschließen.

          Hinter der schmalen Triforiengalerie (sie schließt mit einem flachen Dach ab, das im Außenbau als Laufgang genutzt wird) folgt die eigentliche Außenwand, die pro Triforienbogen mit zwei Spitzbogenfenstern ohne Maßwerk und einem darüber liegenden Oculus versehen ist, gegenüber der Triforienarkade also eine stark vereinfachte Struktur aufweist.

          Einerseits erhält das Triforium, durch die Hinterfensterung und die Entsprechung der Maßwerkbögen zu denen der Hochschiffenster, einen starken Bezug zum Obergaden; andererseits ist seine Eigenständigkeit ihm gegenüber aber durch die plastische Wirkung gewährleistet, die durch die Zweischichtigkeit seines Aufbaus (Maßwerkarkade und Fensterrückwand) entsteht, sowie zusätzlich durch eine rechteckige Rahmung, die um die Arkaden eines jeden Triforienjochs gelegt ist und die Maßwerkpfosten des Triforiums durch ein wasserschlagartiges Gesims von den Fensterpfosten des Obergadens abteilt.

          Das Triforium hat aber auch einen Bezug zu den darunterliegenden, sich zu den Seitenschiffen öffnenden Arkaden: es spiegelt im Kleinen und Flacheren die Plastizität und Raumtiefe wider, die die Seitenschiffe insgesamt für das Mittelschiff darstellen, mit ihrer Zweiwandigkeit aus Scheidbögen und hinterfensterten Seitenschiff-Schildbögen.

          So nimmt das Triforium insgesamt und auf formal sehr überzeugende Weise eine Mittlerfunktion ein zwischen der großen Raumtiefe der Seitenschiffe und der reinen Flächigkeit des Obergadens.

          Die Mittelschiffpfeiler (Arkadenpfeiler) basieren in ihrer Grundanlage auf den Vierungspfeilern, stellen ihnen gegenüber eine architektonische Fortentwicklung dar. Auch sie sind durch Säulenvorlagen vor einem rechtwinkligen Pfeilerkern gebildet. Dieser ist gegenüber der einfachen Kreuzform des Vierungspfeilers aber so abgewandelt, daß er auf jeder Diagonalseite eine vierfache Abtreppung aufweist, die einer fünffachen Staffelung vor- bzw. eingestellter Säulen Platz bietet (gegenüber der dreifachen der Vierungspfeiler). Die Säulenvorlagen der Mittelschiffpfeiler sind im Verhältnis zu den Treppungen ihres Kernes bedeutend größer als beim Vierungspfeiler, so daß der rechtwinklige Pfeilerkern kaum mehr sichtbar ist. Es entsteht fast der Eindruck eines reinen Pfeilerbündels, bestehend aus sechszehn in Kreuzform angeordneten Säulen.

 Eine Eigentümlichkeit des Straßburger Münsters sind die Sockel dieser Säulenvorlagen: der Durchmesser des unteren Torus der Säulenbasen ist größer als die Breite der Plinthen. Die nach außen überstehenden Kreissegmente sind an einigen Pfeilersockeln von Konsolen unterstützt, die mit Laubwerk oder anderen Ornamenten skulptiert sind.

          Die einheitlichen Bündelpfeiler geben dem Langhaus ein sehr elegantes Aussehen. Verschiedene Gestaltungsprinzipien sorgen dafür, daß ein Eindruck von Monotonie nicht aufkommen kann. Zum einen sind die Säulen in drei unterschiedlichen Stärken ausgeführt, mit den dicksten von ihnen an den Ecken der Bündel. Zum anderen werden die Wände des Mittelschiffes dadurch aufgelokert, daß die Kapitelle der Säulen in rhythmischem Wechsel auf zwei verschiedene Höhen verteilt sind, je nachdem, ob sie die Scheidbögen oder das Hochschiffgewölbe tragen. Die fünf innersten der zum Mittelschiff gewandten Säulenvorlagen eines jeden Pfeilers laufen ohne Absatz auf der Höhe der Scheidbogenkämpfer bis zum Gewölbeansatz des Hochschiffes durch. Ihre Kapitelle und Kämpfer liegen oberhalb der Triforien, im unteren Bereich der Hochschiffenster.

          Ein weiteres interessantes Phänomen ist die Art und Weise, wie im Straßburger Langhaus die Pfeilerdienste den Gewölbeelementen zugeordnet sind. Keineswegs entspricht jeweils ein Dienst genau einem tragenden Teil des Gewölbes. Von den fünf zum Hochschiff durchlaufenden Diensten etwa sind die drei innersten dem Gurtbogen, die beiden äußeren den Diagonalrippen zugeordnet. In den Seitenschiffen finden wir frappierende Verhältnisse vor: hier sind von den fünf Diensten einer Diagonalseite der Bündelpfeiler der äußerste dem Seitenschiffgurtbogen, der nächste (also nicht der mittlere!) der Seitenschiff-Diagonalrippe und die drei innersten dem Scheidbogen zugeordnet. Die innerste (und dickste) Säulenvorlage von ihnen trägt dabei oberhalb des Kapitells nicht nur einen birnstabprofilierten Lauf des Scheidbogens, wie die anderen, schmaleren Dienste, sondern zwei. Insgesamt wird der Scheidbogen unsymmetrisch, denn auf der Mittelschiffseite stehen diesem Bogen nur zwei Dienste (die beiden innersten) pro Diagonalseite eines Bündelpfeilers zur Verfügung, und damit nur drei anstelle der vier Bogenläufe der Seitenschiffseite.

          Wir haben schon am Außenbau des Langhauses gesehen, daß die Fenster der Seitenschiffe genau wie diejenigen des Obergadens aufgebaut sind. Sie beginnen aber natürlich nicht am Boden der Kirche, sondern erst auf etwa halber Kapitellhöhe. Unterhalb der Fenster führt im Innenraum ein Laufgang entlang. Seinem etwa dreieinhalb Meter hohen und einen Meter breiten Sockel ist auf der gesamten Länge eine Arkatur vorgeblendet, so daß auch diese verbleibende Wandfläche ihre Strukturierung erfährt. Von den jeweils fünffachen Pfeilerbündeln, die das Seitenschiffgewölbe an den Schildwänden tragen, stehen die drei innersten (die den Gurtbögen und den Diagonalrippen zugeordnet sind) auf dem Boden vor dem Sockel, während die äußeren (den Schildbögen zugeordneten) auf dem Sockel selbst ansetzen. Der Laufgang sticht hinter diesen fünffachen Bündelpfeilern durch das Stützwerk hindurch.

 

 

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