V. Zweisprachigkeit und ihre architektonische Synthese
Seit Jahrhunderten ist das Elsaß durch die Zweisprachigkeit geprägt. Hört man zwar heute den alemannischen Dialekt des Elsässischen in Straßburg selbst nur noch selten, so besteht er doch in den ländlicheren Gebieten unvermindert fort. Nach wie vor gibt es für die elsässisch Sprechenden auch eine eigene Tageszeitung in deutsch. Aber selbst in der Hauptstadt des Elsaß ist die alte Mundart in letzter Zeit wieder aufgetaucht, zum Beispiel auf den neuen, zweisprachigen Straßenschildern, vor allem in der Altstadt. Und vor allem ist sie natürlich von den Speisekarten der elsässischen Restaurants gar nicht wegzudenken.
Nicht nur der Besucher des Elsaß im Allgemeinen muß sich also mit der Zweisprachigkeit auseinandersetzen, auch derjenige, der sich mit dem Straßburger Münster beschäftigt. Die Schwierigkeiten beginnen schon mit dem Namen: haben wir nun heute ein Münster vor uns, oder aber eine Kathedrale? Neue Literatur über das Bauwerk erscheint fast ausschließlich auf französisch und wird dann allenfalls ins Deutsche übersetzt, so zum Beispiel "La cathédrale de Strasbourg" (1993) von Roland Recht, oder "Strasbourg. La cathédrale" (1997) von Benoît van den Bossche. Anfang des 20. Jahrhunderts war es umgekehrt. Da erschien etwa "Das Münster zu Straßburg" (1933) von Hans Janzen, oder aber "Das Straßburger Münster" (1922) von dem bekannten Architekturhistoriker Georg Dehio.
Immer wieder wechselte die Herrschaft über das Elsaß zwischen den Mächten links und rechts des Rheins hin und her, nicht nur 406, 496, 843 und 870, sondern auch wieder 1681, 1871, 1919, 1939 und zuletzt 1945. Aber der wiederholte, erzwungene Wechsel der Amtssprache war nicht der einzige Grund dafür, daß sich auch in Bezug auf den Münsterbau zwei Sprachen parallel etablierten. Betrachtet man die Baugeschichte, so fällt sie fast ausschließlich in die Zeit der Zugehörigkeit Straßburgs zum dt. König- bzw. Kaiserreich. Und trotzdem: es waren französische Baumeister, die die Gotik nach Straßburg brachten, aus Paris, aus Chartres, und die auch hier, im deutschen Reichsgebiet, beim Bau des Straßburger Münsters, leitende Funktionen ausübten.
Es ist also müßig zu fragen, ob das Straßburger Münster eher ein deutsches oder ein französisches Kunstwerk sei. Jahrzehntelang haben derlei Spekulationen die Literatur über das Bauwerk beherrscht, oft aus nationalbetonten Perspektiven heraus. In kunstgeschichtlicher Hinsicht haben sie nichts von Relevanz hervorgebracht, und zum Glück treten sie heute weitgehend in den Hintergrund. Immer deutlicher wird, daß es sich bei dem Bauwerk, ganz seiner geographischen Lage entsprechend, viel eher um eine Synthese handelt, die aus dem reichen Fundus beider Traditionen schöpft. Den Münsterbaumeistern waren schon vor fast 800 Jahren die gemeinsamen Werte und Zielsetzungen der beiden an den Oberrhein grenzenden Kulturkreise viel wichtiger als ihre Unterschiede. Es einte sie das Bestreben, dem Christentum und dem tiefen religiösen Empfinden des mittelalterlichen Menschen auch architektonisch, also auf sinnlich-sichtbare Weise größtmöglichen Ausdruck zu verleihen. So gelangten französische und deutsche Baukunst in dieser Kathedrale zu einer Vereinigung, die nicht nur an sich etwas Einmaliges darstellte, sondern darüber hinaus wegweisend war für die Ausbreitung der Gotik über ganz Europa und damit ihre Stiftung einer gesamteuropäischen Identität.
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