Pisa © Roland Salz 2000 - 2015
Roland Salz                                                                      
                                                                      Meditationen über Architektur

XXXIV. Sinfonie der Treppen: Der Straßburger Einturm

 

Der Einturm des Straßburger Münsters, der auf seiner Nordseite steht, zerfällt in zwei deutlich voneinander unterscheidbare Bauteile: den 38 Meter hohen Turmschaft und die ebenfalls 38 Meter hohe, pyramidenförmige Turmspitze. Der Schaft ist, obwohl der nördliche obere Abschluß des Westbaumassivs eine quadratische Grundfläche bietet, über achteckigem Grundriß entworfen. Seine Grate werden durch vorn spitz zulaufende Pfeilervorlagen betont, die die statische Funktion von Strebepfeilern erfüllen und auf halber Höhe des Schaftes in Fialen auslaufen, nachdem sie im unteren Bereich Figurennischen Platz geboten haben. Das Oktogon zeigt zwei Stockwerke, von denen das obere nur etwa ein Viertel der Gesamthöhe des Turmschaftes ausmacht.

          Das untere Stockwerk ist auf jeder der acht Oktogonseiten von einem hohen, schlanken Doppellanzettfenster mit filigranem Mittelstab durchbrochen. Auf halber Höhe ist den beiden Lanzetten, nicht zuletzt wohl aus Gründen der Stabilisierung, je eine kleine Vierpaß-Maßwerkform eingefügt, der ein spitzer Wimperg mit konkaven Schrägen (sog. "geschneppter" Wimperg) aufgesetzt ist. Das Bogenfeld des tief eingeschnittenen und stark profilierten Fenstergewändes ist von einem vorgeblendeten Spitzbogen überfangen, dessen beide Arme im Scheitelpunkt nicht enden, sondern sich hier nur kreuzen und auf der entgegengesetzten Seite in konkaver Linie weiter hochsteigen, bis sie sich tangential mit die Kanten des Oktogons vereinen. Es entsteht so die Form eines Zwillings-Spitzbogens, wobei der obere der beiden dem gleichgroßen unteren verkehrt herum auf die Spitze gestellt ist. Der obere, auf dem Kopf stehende Bogen verschneidet sich zusätzlich mit einem Eselsrückenbogen, der etwas oberhalb des unteren Spitzbogens ansetzt und diesen überfängt. Die konkaven, oberen Abschnitte des Eselsrückenbogens formen dabei mit den oberen Partien des auf dem Kopf stehenden Spitzbogens zwei kleinere, ebenfalls nach oben geöffnete Spitzbögen.

          Das zweite Geschoß des Oktogons springt etwas zurück und läßt oberhalb der Stockwerksgrenze Platz für eine Galerie, die mit einer durchbrochenen Brüstung versehen ist. Mit ihr verschneiden sich die emporwachsenden "Beine" der auf dem Kopf stehenden Spitzbögen. Die Kanten des Oktogons laufen, jetzt zu Brüstungspfeilern geworden, in Fialen aus, genauso wie die Spitze des Eselsrückenbogens. Zur Verwirrung trägt bei diesem komplizierten Arrangement vor allem das Fehlen einer expliziten optischen Stockwerksbegrenzung bei, etwa in Form eines Gesimses. Lediglich die Oberkante der Maßwerkbrüstung weist mit ihrer Horizontalen auf den Beginn eines neuen Geschosses hin.

          Das Obergeschoß des Oktogons zeigt auf jeder Seite nur ein einfaches, etwas schmaleres Spitzbogenfenster, das allerdings durch seitliches Blendmaßwerk optisch verbreitert wird. Es ist von einem zweiten, gleichhohen aber breiteren Spitzbogen umfangen, der die gesamte Breite einer Seitenfläche des Baukörpers einnimmt. Die Bereiche zwischen Fenster und Oktogonkanten, also zwischen echter und Blendfensteröffnung, werden von schmalen Blendlanzetten ausgefüllt.

          Dieses Geschoß ist oben wiederum mit einer Galerie abgeschlossen, die diesmal jedoch überdacht ist, denn die Turmspitze, die darüber ansetzt, springt gegenüber dem Obergeschoß des Oktogons nicht zurück. Mit der Brüstung der Galerie verschneiden sich komplizierte Maßwerkformen, die oberhalb der Fenster als Blendmaßwerk ihren Ausgang nehmen und nur in der Brüstung selbst wirklich durchbrochen sind. Sie sind aus Dreipaß- und Dreiblattformen entwickelt, zeigen aber auch die nach oben gerichteten Stümpfe auf dem Kopf stehender Rund- und Spitzbögen.

          Offensichtlich hatte man zuerst vor, bereits über dem ersten Oktogongeschoß des Turmschaftes ein Gewölbe einzuziehen. Im Innern des Turm sind hier die acht Gewölbeansätze deutlich zu sehen. Dann gab man den Plan aber auf und wölbte erst das obere Geschoß ein. Steinerne Rippen bilden ein sternförmiges Muster, mit einem großen Schlußring in der Mitte, ähnlich denjenigen in den Gewölbejochen des Narthex. Die Zwischenräume wurden mit großen Steinplatten abgedeckt. Entgegen der ursprünglichen Vermutung, der Baumeister Johannes Hültz habe nach dem Tode Ulrichs, im Jahre 1419, dessen Turmoktogon um das zweite Geschoß aufgestockt, nimmt man heute an, daß die Zweistöckigkeit des Turmschaftes bereits auf die Pläne Ulrichs zurückgeht und daß dieser auch noch selbst mit dem Bau des zweiten Geschosses begann. Vollendet mußte es aber dann von Johannes Hültz werden.

          Das Turmoktogon Ulrich von Ensingens beweist durch seine starke Aufbrechung der Seitenflächen und die originellen, spätgotischen Maßwerkformen zwar schon einige Qualität, erreicht aber erst durch ein weiteres Element seine erstaunliche, auch für den Betrachter von unten gut erkennbare Formgebung. Vor vier der acht Seitenflächen des Oktogons sind, auf den vier Ecken des Turmunterbaus, eigenständige Treppentürme gestellt, die über die gesamte Höhe des Oktogons mit diesem so gut wie keine Verbindung haben. Sie erwachsen je aus dem Grundriß eines gleichschenkligen Dreiecks, das sich mit einer Seite dem Oktogon in geringem Abstand vorlagert. Der Kern dieses Dreiecks, die eigentliche Wendeltreppe, ist aber von sechseckigem Grundriß und wächst auf halber Höhe als einziger verbleibender Baukörper in der Mitte aus diesem ursprünglichen Dreieck heraus. Die drei Ecken des Dreiecks hingegen laufen in Fialen aus, bleiben zurück wie die Blätter um einen Pflanzenstengel, der selbst viel weiter emporschießen muß. Bis in der atemberaubenden Höhe von 34 Metern über der Plattform des Westbaus und insgesamt 100 Metern über dem Münstervorplatz gelangt derjenige, der eine dieser vier Treppen erstiegen hat; er steht dann auf der winzigen, von einer Brüstung umgebenen Plattform seines Treppenturms und gelangt von dort über ein luftiges Steinbrückchen auf die Galerie über dem zweiten Geschoß des Oktogons.

          Immerhin, die freistehenden Treppentürme am Turmschaft des Straßburger Münsters sind nicht einzigartig. Man findet Vergleichbares etwa am Meißner oder am Prager Dom. Ulrichs Nachfolger, der Kölner Johannes Hültz, trieb den architektonischen Wagemut aber noch weiter als sein Vorgänger und übertraf mit der Straßburger Turmspitze alles bisher Dagewesene. Bis heute braucht sie keinen Vergleich zu scheuen, gilt als das Kühnste und Schönste, was einen christlichen Kirchturm je bekrönt hat. Johannes Hültz schuf mit dem Turmhelm, der noch einmal dieselbe Eigenhöhe aufweist wie die beiden Geschosse des Turmoktogons zusammen und damit das Straßburger Münster auf die für die damalige Zeit unvorstellbare Höhe von 142 Metern brachte, ein Werk, bei dem sich die Grenzen zwischen Architektur und Skulptur verwischen.

          Auch Ulrich von Ensingen hatte natürlich schon eine Turmspitze entworfen, doch Hültz ersetzte diesen Plan durch einen neuen. Er schuf aber nicht etwas gänzlich Bezugloses zu dem bereits Bestehenden, sondern nahm, wie ein guter Architekt dies tut, dessen zentrale Themen auf und führte sie lediglich auf seine eigene Weise weiter.

          Zwei dieser Themen lassen sich sofort benennen: einerseits die multiplizierten und nach außen verlegten Treppen, die dabei von einem reinen Funktionselement zu einem solchen der formalen Gestaltung werden, und zum anderen die ungewohnte Maßwerkform der auf den Kopf gestellten Spitzbögen.

         Die Turmspitze besteht in ihrem unteren Teil aus einer achtseitigen Pyramide. Auf die Außenkanten ihrer Rippen gestellt, führen acht Treppen gleichzeitig nach oben. Es handelt sich dabei wieder um Wendeltreppen - die Standardtreppenform im "höheren" Kathedralenbau. Um aber den Schrägen dieses Pyramidenhelmes folgen zu können, sind die an sich senkrechten Treppentürmchen in jeweils sechs vertikale Abschnitte zerlegt, wobei jeder nächsthöhere Abschnitt etwas weiter nach innen springt. Die hexagonale Grundform der Türmchen, die eigentlich nur aus jeweils sieben schlanken Rundpfeilern bestehen - sechs an den äußeren Ecken und einem im Treppenauge - ermöglicht den stückweisen Versprung nach innen auf elegante Weise, indem der Mittelpfeiler des unteren Treppenabschnitts jeweils zum äußeren Eckpfeiler für den nächst darüber liegenden wird, und der vordem innere Eckpfeiler zum neuem Mittelpfeiler.

         Die zwischen den treppenbekrönten Rippen verbleibenden Seitenflächen der Pyramide sind im breiteren, unteren Teil mit großen, maßwerkdurchbrochenen Steinplatten ausgefüllt, im oberen Teil bleiben die Zwischenräume dagegen gänzlich offen.

          An der Spitze der Pyramide, in etwa 123 Metern Höhe, laufen die acht Treppen paarweise an den unteren Ecken eines auf quadratischem Grundriß errichteten, offenen "Häuschens" zusammen. Es wird in Wahrheit aus vier ebenfalls offenen Treppentürmchen an dessen Ecken konstituiert, in denen man nun über nur noch vier Wendeltreppen die Dachplattform des Häuschens erreichen kann. In 129 Metern Höhe über dem Münstervorplatz ist der absolut schwindelfreie Besteiger des Straßburger Münsterturms nun angelangt, aber es fehlen noch immer dreizehn Meter bis zur Spitze. Die Hälfte von ihnen kann er weiterhin über Wendeltreppen erklimmen - allerdings fehlen diesen, wie um die Anforderungen an die Besucher noch etwas zu steigern und die Selektion zu verschärfen, die Geländer. In einem achteckigen, zentral auf der Dachplattform des Häuschens stehend Aufbau laufen zwei Wendeltreppen los, um sich auf halber Höhe an einem Punkt zu treffen, an dem der Aufbau von einer kleinen, allseits vorkragenden Rundgalerie umsäumt wird. Wer auch diesen Ausblick genossen hat, kann jetzt noch auf einer einzelnen Wendeltreppe bis unter die "Krone" vordringen, so wird der obere Abschluß dieser begehbaren Laterne genannt. Von hier aus führt der Weg - "jetzt aber wirklich nur noch für die Bauleute!" - durch eine der Öffnungen im Dach der Krone nach oben und über Außenleitern aus Metall, die natürlich nur im Bedarfsfall und provisorisch angebracht werden, zu der steinernen Rosenknospe und schließlich dem großen, griechischen Eisenkreuz, das hier wirklich einen triumphalen Abschluß bildet.

          Wer auf diesen letzten Metern genau hingesehen hat - und das empfiehlt sich bei ihrer Besteigung in jedem Fall - der kann an der Tatsache, daß hier jeder Sandstein von Eisenankern durchzogen und von zentimeterdicken Metallbändern umklammert ist, leicht ablesen, welchen Windkräften und welchen elektrischen Entladungen dieser Teil des Münsters bisweilen ausgesetzt ist.

 

 

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