Pisa © Roland Salz 2000 - 2015
Roland Salz                                                                      
                                                                      Meditationen über Architektur

II. Die Brückenstellung Straßburgs und seines Münsters

 

La Cathédrale Notre-Dame de Strasbourg, oder, wie es hier genannt werden soll, das Münster Unserer Lieben Frau (um den mancherorts anzutreffenden, aber etwas befremdlichen Ausdruck "Liebfrauenmünster" zu vermeiden), ist unzweifelhaft das beherrschende Bauwerk der Stadt, auch heute noch, im Zeitalter der Europäischen Union. Wie ist diese Stadt entstanden, die nicht zufällig zum Sitz des Europäischen Parlamentes auserkoren wurde, wie hat sie sich entwickelt, welche Stellung und Bedeutung hatte sie im Mittelalter, als die Kathedrale entstand? Und in welchem Verhältnis steht die Geschichte der Stadt zu derjenigen des Bauwerkes, einem der eindrucksvollsten schon zu damaliger Zeit und nun selbst schon viele hundert Jahre alt?

          Ohne schon die genauen Umstände zu kennen, kann man vermuten, daß es starke Wechselwirkungen gegeben hat. Das Münster konnte nicht unabhängig von der Stadtgeschichte entstehen, zu viel Geld, Arbeitskraft und Kontinuität kostete sein Bau, ganz abgesehen von den künstlerischen Leistungen, die ihrerseits in vielfältigen - auch politischen - Beziehungen zu anderen Kathedralbaustellen in ganz Europa standen. Umgekehrt wirkte das Münster durch seine zentrale und dominierende Stellung im mittelalterlichen Stadtbild auf die gesamte Ansiedlung zurück, prägte ihr architektonisches Gesicht, gab ihren geistigen und weltlichen Herrschern, aber auch ihren Bürgern Identität. In künstlerischer Hinsicht bildete es das Vorbild - oder zumindest einen Referenzpunkt-, an dem über Hunderte von Jahren hinweg kein anderer Kirchenbau am Oberrhein vorbeikam. Nicht zuletzt verhalf die Straßburger Münsterbaustelle, als ein Brennpunkt mittelalterlich-gesamtkünstlerischen Schaffens, der Stadt dazu, auch in theologischer und literarischer Hinsicht zu den führenden Schauplätzen Europas aufzusteigen.

          Bei etwas genauerer Betrachtung fällt es nicht schwer, eine Kontiunität in der Geschichte und Entwicklung Straßburgs festzustellen, die von den Anfängen vor 3000 Jahren bis in die unmittelbarste Gegenwart hineinreicht, und die auch die Geschichte und Stellung des Münsters miteinbezieht. Auf zwei Begriffe gebracht könnte man diesen roten Faden benennen mit Grenzlage und Brückenstellung. Hunderte von Jahren lang war die Stadt umkämpft von großen, aber wechselnden Kulturkreisen, die immer wieder hier, am ewigen Grenzfluß Rhein, aneinanderstießen. Ebenso lang aber ist auch die Geschichte der Stadt als Vermittlerin, nicht nur zwischen eben diesen unmittelbar angrenzenden Völkern, sondern darüber hinaus für den ganzen Kontinent. Was das Europäische Parlament mit seinem Sitz gerade hier in Straßburg für die Einigung Europas bedeutet, das hat der Straßburger Münsterbauplatz bereits im Mittelalter vorweggenommen: durch seine Mittlerfunktion nicht nur im Hinblick auf die Baukunst (für die Ausbreitung der Gotik nach Osten etwa, ins deutsche Reichsgebiet hinein und damit ihre Entwicklung zu so etwas wie einer paneuropäischen Kunstbewegung), sondern in einem viel breiteren, gleichermaßen sozialen, intellektuellen und politische Kontext: als eine konkrete Brücke nicht nur über den Rhein hinweg, sondern damit zugleich ganz Europa verbindend.

 

 

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