Pisa © Roland Salz 2000 - 2015
Roland Salz                                                                      
                                                                      Meditationen über Architektur

XXIX. Das Nordportal der Westfassade

 

Die Arbeiten am Portalgeschoß der Westfassade wurden gegen 1277 begonnen, kurz nach der Erstellung des berühmten Riß' B. Als Meister Erwin von Steinbach zum Leiter der Bauhütte berufen wurde, wahrscheinlich im Jahre 1284, waren die Arbeiten an den drei Portalen also schon in vollem Gange. Wann das Portalgeschoß abgeschlossen war, ist nicht überliefert. Es wird aber heute davon ausgegangen, daß die Rose im zweiten Geschoß noch unter Erwin errichtet wurde, also vor 1318. Man kann also annehmen, daß das Portalgeschoß gegen Anfang des 14. Jahrhunderts bis zum Gurtgesims hochgeführt war.

          Während der Bauzeit des Portalgeschosses trat eine einschneidende Veränderung in der Organisation der Münsterbauhütte ein. Im Jahre 1286 nahm der Straßburger Stadtrat ihre Leitung dem Bischof aus der Hand und übte sie seitdem selbst aus. Wir erwähnten bereits, daß das Werk Unserer Lieben Frau (bzw. jetzt L'Œuvre Notre-Dame) als eine von der Kirche weitgehend unabhängige Institution bis heute besteht.

          Die Portale einer Bischofskirche, als die Zugangspunkte zum Allerheiligsten und somit Kernpunkte der Fassade, stellen in der Gotik traditionell einen der wichtigsten Bereiche für die skulpturale Ausgestaltung des Kirchengebäudes dar. Die unglaubliche Skulpturen- und Szenenfülle an den Portalen des Straßburger Münsters - es sind mehrere hundert Einzelfiguren - läßt sich nur dann als Ganzes erfassen, wenn man versucht, sich das ikonographische Programm zu vergegenwärtigen, das ihr als wohlüberlegtes Strukturprinzip zugrunde liegt. Die Bildprogramme, nach deren motivischen Vorgaben die Bildhauer ihre Skulpturenwerke schufen, wurden gewöhnlich von Theologen erstellt. Für die Portalzone des Straßburger Münsters vermutet man als Urheber den Dominikanermönch und Scholastiker Albertus Magnus.

          Eine hochgotische Kathedrale versucht in der Regel, an ihrer Portalzone die Essenz der christlichen Lehre zu präsentieren, wie sie von der Bibel überliefert ist. Der Großteil der Bevölkerung waren im Mittelalter des Lesens nicht kundig, schon gar nicht des Kirchenlateins, und so lag es nahe, die Geschichten des Alten und vor allem des Neuen Testamentes in Bilderfolgen zu veranschaulichen. Darüber hinaus konnte man an den Portalen die großen Persönlichkeiten und Vorbilder aus der Geschichte der Kirche, die Propheten, Apostel, Heiligen und Bischöfe, als Vollskulpturen lebendig werden lassen. In der Art und Weise, wie das ikonographische Programm eine Bischofskirche und seine konkrete gestalterische Verwirklichung die christliche Lehre interpretiert und darstellt, lassen sich Rückschlüsse darauf ziehen, welche Elemente in einer bestimmten Epoche, an einem bestimmten Ort und von den dort bestimmenden Persönlichkeiten oder sozialen Gruppen als die wichtigsten angesehen wurden. Kein ikonographisches Programm einer Kathedrale gleicht in allen Teilen dem anderen. Dasjenige des Straßburger Münsters ist deswegen von besonderer Bedeutung, weil es entscheidende Neuerungen einführt, die auf viele spätere Kirchenbauten weiterwirkten. An der Nahtstelle von französischem und deutschem Reich gelegen, greifen die Straßburger Baumeister die wesentlichen Grundgedanken der klassischen französischen Kathedralbaukunst auf, gestalten sie aber oft auch entscheidend nach ihrem eigenen stilistischen Empfinden um.

          Die Anlage der drei Portale der Westfassade ist symmetrisch. Die eigentlichen Türöffnungen - in den Seitenportalen ist es jeweils eine, im Hauptportal sind es zwei, getrennt von einem steinernen Mittelpfosten - sind alle gleich hoch und ausgesprochen schmal. Sie werden von Tympana überfangen, die in mehreren, übereinander angeordneten Lagen (sog. Registern) mit Bilderreliefs ausgefüllt sind. In die Widerlager der spitzbogigen Archivolten (in den Seitenportalen sind es je vier, im Mittelportal fünf) sind über einem hohen Sockel Nischen eingelassen, die den fast lebensgroßen Gewändefiguren Platz bieten. Oberhalb ihrer Baldachine stehen in den Archivolten der Seitenportale je zwischen drei und fünf kleinere Figuren übereinander, im Mittelportal sind es zwischen fünf und neun kleinere, ebenfalls von Baldachinen bekrönte Figurengruppen.

          Alle drei Portale sind von maßwerkdurchbrochenen Wimpergen überfangen, das Mittelportal sogar von einem doppelten. Während die beiden Wimperge des Mittelportals ebenfalls noch ein Skulpturenprogramm tragen, sind diejenigen der Seitenportale lediglich mit kreisförmigen Maßwerkornamenten geschmückt, die vorausdeuten auf das kreisförmige Maßwerk der großen Mittelrose. Die Wimpergpfosten und -giebelkanten der Seitenportale sind überdies mit hohen Fialen versehen, die sich in das vertikale Bauschema des Portalgeschosses entsprechend dem Riß B einfügen.

          Die tiefen Gewände füllen die Wandpartien zwischen den Strebepfeilern nicht vollständig aus. Links und rechts eines jeden Portals verbleiben schmale Streifen, die, genau wie die Wandflächen der Strebepfeiler selbst, mit Blendarkaden geschmückt sind. In diejenigen neben den Portalen sind, auf derselben Höhe wie in den Gewänden, Nischen eingelassen, die auf jeder Portalseite zwei weiteren Figuren Platz bieten. Damit lassen sich die Figurenprogramme der Gewände auf zwölf Plätze in den Seiten- und vierzehn im Mittelportal erweitern. Alle Blendarkaden sind mit (freistehenden) Wimpergen überfangen und schaffen so eine motivische Verbindung zu den Blendarkadenreihen im Innern der Turmhalle, sowie über diese indirekt auch zu denjenigen an den Innenwänden der Langhausseitenschiffe.

          Die Tympana der drei Portale stehen in engem Zusammenhang untereinander. Sie zeigen insgesamt die Lebensgeschichte Jesu'. Diese ist zwischen den Portalen und innerhalb der Register von links nach rechts zu lesen, zwischen den Registern jedoch von unten nach oben. So bildet das Nordportal den Anfang und zeigt im unteren Register links die drei Könige vor Herodes, rechts ihre Anbetung des Kindes. Darüber ist der Kindermord zu Bethlehem und die Flucht der heiligen Familie nach Ägypten dargestellt. Ganz oben sehen wir Maria, nach dem Tode Herodes' nach Galiläa zurückgekehrt, mit dem Simon bei der Weihe des Kindes im Tempel. Auffällig ist bei dieser Darstellung der Kindheit Jesu' die Abwesenheit einiger sonst üblichen Szenen, wie der Verkündigung an Maria und der Geburt des Kindes zu Bethlehem. Dafür finden wir Episoden aus der Heiligen Geschichte dargestellt, die gewöhnlich nicht an gotischen Kathedralfronten verbildlicht sind (Könige vor Herodes, Kindermord).

          Dieses Tympanon wurde, genau wie dasjenige des Südportals, im Zuge der Französischen Revolution weitgehend zerstört. Dasselbe Schicksal ereilte fast alle Figuren und Figurengruppen der Archivolten aller drei Portale sowie diejenigen auf den Wimpergen des Mittelportals. Nur die großen Gewändefiguren und das mittlere Tympanon konnten durch den mutigen Einsatz einiger Straßburger Bürger gerettet werden. Insgesamt wurden im Jahre 1793, bei der Umwidmung der christlichen Kirche in einen "Tempel der Vernunft", innerhalb weniger Tage etwa zweihundert Portalskulpturen unwiederbringlich vernichtet. Den restaurativen Bemühungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ist es zu verdanken, daß wir heute die Figurenprogramme der Westfassade wieder weitgehend vollständig bewundern können. Wo vorhanden, hat man alte Abbildungen für die Nachschöpfung herangezogen.

          Von den Archivoltenfiguren des Nordportals, die in der äußeren Wölbung Engel, ansonsten Heilige und Bischöfe darstellen, ist eine Figur auffallend. Sie steht mit dem Rücken zum Betrachter. An dem Rost in ihrer Hand ist sie aber dennoch als der hl. Laurentius zu erkennen, der nach Südosten blickt, dorthin also, wo "sein" Portal liegt, dasjenige der ihm geweihten Pfarrgemeinde.

          Wenn die Ikonographie des Nordportals bis hierher dem heutigen Betrachter als durchaus verständlich und nachvollziehbar erscheint, so kann sich das angesichts der Gewändefiguren ändern. Von den französischen Kathedralen des 12. und 13. Jahrhunderts sind wir an dieser Stelle endlose Reihen von heiter und gleichmütig dreinblickenden Heiligen gewohnt. Nicht so in Straßburg. Wer es wagt, seinem eigenen, spontanen Urteil zu vertrauen, der wird hier wahrscheinlich nur zwölf Frauengestalten erblicken, die in hampelhafter Pose und mit linkischen Verrenkungen Lanzen in den Händen halten (einige offenbar zum ersten mal in ihrem Leben), mit deren Spitzen sie gnomhaften Wesen, auf denen sie thronend stehen, in die menschenähnlichen Köpfe stechen. Dabei halten diese jungen Frauen teilweise entrollte Spruchbänder in der freien Hand - es ist nicht immer die linke - ebenso wie die Gnome. Darauf standen in früherer Zeit die Namen von zwölf Tugenden zu lesen, bzw. Lastern bei den Gnomen.

 Mit einer Darstellung des Kampfes der Tugenden gegen die Laster haben wir es also zu tun, einer Psychomachie, einem uralten Bildmotiv aus der christlichen Ikonographie. Begründet wurde es bereits in antiker Zeit, durch eine epische Dichtung gleichen Namens des Aurelius Prudentius. Viele mittelalterliche Handschriften, so das berühmte Hortus Deliciarum der Äbtissin Herrad von Landsberg aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, das auch in manch anderer Hinsicht die Bildprogramme des Straßburger Münsters beeinflußt haben dürfte, illustrieren diesen Kampf, indem sie die Kontrahenten etwa als gegeneinander anstürmende Ritterscharen abbilden.

          Wie aber sollen wir dieses Thema aus dem Bereich der Ethik, das uns an sich klar und eindeutig und in ausreichendem gedanklichem Bezug zu den zentralen Inhalten der christlichen Lehre erscheint, hier am Nordportal des Straßburger Münsters verstehen? Wie sollen wir die übertriebenen Gesten und die fast karikaturistischen Gesichtszüge der jungen Frauen deuten, deren breites Ausdrucksspektrum von dümmlicher Geistesabwesenheit über biedere Geschäftigkeit bis zu kokett-verkrampfter Eitelkeit oder sadistischer Häme reicht, und die somit in keinerlei erkennbarer Beziehung zu dem stehen, was man allegorisch in ihnen erkennen sollte und was die Spruchbänder einst explizit benannten?

          Immerhin fällt auf, daß die Auseinandersetzung zwischen Tugenden und Lastern nicht mehr, wie etwa noch im Hortus Deliciarum, die Züge eines Kampfes zwischen gleichstarken Gegnern trägt. Der Kampf ist längst entschieden, die Laster sind lächerlich kleine und schwache Wesen, mit denen die Tugenden spielen wie die Katze mit der Maus. Die ganze Darstellung erhält das Gepräge einer Posse. Dadurch aber geht der tiefe Ernst der ursprünglichen, moralischen Aussage (über die Bedeutung des spirituellen Kampfes im Leben eines jeden einzelnen) verloren, und es stellt sich die Frage, welchen Wert das hier Dargestellte im Sinne der christlichen Botschaft überhaupt noch hat. War das ihnen von den Theologen vorgegebene Thema den Bildhauern vielleicht als zu "banal", zu fromm oder zu moralisierend erschienen? Und hatten sie deshalb seine Umsetzung zwar in exzellenter handwerklicher Qualität vorgenommen, aber dafür manieristisch verfremdet und mit einem Schuß bösartiger Ironie gewürzt?

          An den anderen beiden Portalen werden wir ähnlichen Merkwürdigkeiten in der Darstellungsweise der Gewändefiguren begegnen. Handelte es sich bei der in allen Fällen durchscheinenden ironischen Distanz zu den eigentlich vorgegebenen Bildaussagen (und der sich darin ausdrückenden Entfremdung zwischen Bildmotiv und Künstler) vielleicht um einen charakteristischen Zug des ausgehenden 13. Jahrhunderts? Es sei noch einmal betont, daß alle Gewändefiguren im Original erhalten, also keine (stilistisch vielleicht verfälschten) Nachschöpfungen des 19. Jahrhunderts sind.

 

 

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