Pisa © Roland Salz 2000 - 2015
Roland Salz                                                                      
                                                                      Meditationen über Architektur

XXVII. Der Westbau als Baukörper

 

Als Baukörper betrachtet zerfällt der Westbau des Straßburger Münsters klar in zwei Teile: einen mächtigen, hochgestellten Quader, von 45 Metern Breite und 66 Metern Höhe, bei einer Tiefe von 18 Metern, und einen Turmaufsatz, der in einzigartig unsymmetrischer Weise auf das nördliche Drittel dieses Quaders gestellt ist und eine Höhe von noch einmal 76 Metern aufweist. Der Turm allein ist also 10 Meter höher als das Quadermassiv und führt das Gesamtgebäude bis auf eine Höhe von 142 Metern. Das Straßburger Münster war bei seiner Fertigstellung im Jahre 1439 das höchste Kirchengebäude Europas und blieb es über Jahrhunderte. Nur die Kirchtürme von Ulm und Köln, die aber erst im 19. Jahrhundert vollendet wurden, überragten dann denjenigen von Straßburg.

          Stabilität wird dem gewaltigen Quader durch insgesamt zehn Strebepfeiler verliehen, vier auf der Fassadenseite, je zwei auf den Schmalseiten und noch einmal zwei auf der Ostseite. Das wesentlich niedrigere und auch schmalere Langhaus vermag den Westbau auf der Ostseite nämlich nicht ausreichend zu stützen, und so schieben sich diese beiden östlichen Strebepfeiler an den Flanken der Langhausseitenschiffe vorbei, wobei sie deren Fensteröffnungen im westlichsten Joch zur Hälfte verdecken.

          Die Strebepfeiler stehen an der Basis des Gebäudes jeweils um mehr als zwei Meter vor, so daß die optischen Dimensionen des Quaders auf 50 Meter Breite und 23 Meter Tiefe anwachsen. Mit zunehmender Höhe weisen zwar die Strebepfeiler deutlich erkennbare Rücksprünge auf; diejenigen der Geschosse des Massivs selbst sind dagegen so minimal, daß man sie mit dem Auge kaum ausmachen kann. So entsteht der wandartige und übermächtige Eindruck der Westfassade, dem sich kaum ein Betrachter entziehen kann, wenn er ihr auf dem Vorplatz des Münsters gegenübersteht.

          Durch die Strebepfeiler wird die Fassade vertikal in drei Abschnitte von ungleicher Breite gegliedert. Sie entsprechen in ihren Proportionen ungefähr den Breiten von Mittelschiff und Seitenschiffen des Langhauses. Die mittleren beiden Strebepfeiler liegen in den Achsen der Mittelschiffpfeiler, durch ihre größere Stärke wird der Raum zwischen ihnen aber etwas kleiner als die Jochbreite des Mittelschiffes. Die äußeren Strebepfeiler sind dagegen aus den Achsen der Seitenschiffwände nach außen verschoben, so daß hier die Abstände zwischen den Strebepfeilern annähernd der Seitenschiffbreite entsprechen, wobei die Zwischenräume aber nicht genau in den Flucht der Seitenschiffs liegt. Die Fassade spiegelt also, auch durch die drei jeweils zwischen den Strebepfeilerpaaren gelegenen Portale, die Dreischiffigkeit des Langhauses wieder, verändert aber die Proportionen etwas zugunsten einer stärkeren Betonung der Flügel.

          Diese Tendenz wird verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß bereits die Vorgängerkirche, das ottonische Wernher-Münster, mit einer Doppelturmfassade ausgestattet war und daß diese zweitürmige Grundanlage, die die Flügel der Westfassade gegenüber der Mitte hervorhebt, auch für den gotischen Neubau beibehalten werden sollte.

          Aus der Anfangsphase der Arbeiten am Westbau, also der Zeit um 1277, sind zwei auf Pergament festgehaltene Pläne überliefert, die die frühen Grundideen für die Fassadengestaltung zeigen. Während der erste von ihnen nicht verwirklicht wurde, ist der zweite Plan, allgemein als "Riß B" bezeichnet, für die Baugeschichte des Münsters von größter Bedeutung. In der Portalzone (dem untersten Geschoß) wurde dieser Plan weitgehend verwirklicht. Dann allerdings setzten Abwandlungen ein, und mit zunehmender Höhe des Gebäudes entfernte man sich von dem ursprünglichen Plan immer weiter. Im Verlaufe der über 160-jährigen Bauzeit des Westbaus und unter mindestens acht namentlich bekannten Baumeistern kam es naturgemäß zu einem mehrfachen und manchmal dramatischen Wechsel der Ideen für die Fassadengestaltung. Diesen Änderungen der ästhetischen Ansichten über die Gestaltung der Schauseite einer Bischofskirche während des Bauverlaufs ist es auch zuzuschreiben, daß wir in Straßburg das einzigartige Phänomen einer eintürmigen Kirche über einem ursprünglich für die Zweitürmigkeit angelegten, dann aber im Gegenteil zur Turmlosigkeit umgestalteten Sockel vorfinden. Wie kam es dazu?

          Die den Riß B beherrschende Idee war der Vertikalismus. Portale und Fensteröffnungen sollten von spitzen Wimpergen überfangen sein, die ganze Fassade, in all ihren Teilen, von Hunderten von Fialen bedeckt. Horizontale Geschoßteilungen sind zwar zu erkennen, sollten aber nicht betont werden. So finden wir eine Geschoßgrenze über den Portalen, dann eine weitere über der Mittelrose und den beiden großen Seitenfenstern. Über diesem zweiten Geschoß ragen bereits die ersten Turmgeschosse auf, der Bereich zwischen ihnen, oberhalb der großen Rose, sollte offen bleiben und lediglich optisch von einer Reihe sehr hoher Fialen, die wie die Zacken eines Kammes anmuten, ausgefüllt werden. Das erste Geschoß der beiden Türme wird im Riß B oben deutlich erkennbar begrenzt. Darüber folgt ein weiteres Turmgeschoß, in dem sich die beiden Einzeltürme aber schon merklich verjüngen. Bekrönt werden sollten sie je durch eine riesenhafte Fialen.

          Die entscheidenden Veränderungen des tatsächlichen Gebäudes gegenüber diesem frühen, stilistisch einheitlich durchgestalteten Plan liegen vor allem im Zurückdrängen der strengen Vertikalität in den oberen Geschossen. Die Fülle der Fialen und Wimperge ist deutlich zurückgenommen. Auch sind die horizontalen Geschoßgrenzen des heutigen Münsters wesentlich sichtbarer ausgeprägt als im Riß B.

          Die wohl einschneidendste Maßnahme aber stellte die in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts aufgekommene Idee dar, den Bereich zwischen den ersten Turmgeschossen durch ein Glockenhaus auszufüllen und somit fassadenseitig zu schließen, das bis zur oberen Stockwerksgrenze dieser Turmgeschosse reichen sollte. Die unteren Turmgeschosse wurden dadurch in das Massiv der Fassade integriert, verloren ihren Turmcharakter. Entstanden war eine einzige Wand, deren drei vertikale Abschnitte in drei horizontale Geschosse von jeweils etwa gleicher Höhe unterteilt waren.

          Was also im Portalgeschoß als stark vertikale, aufstrebende Komposition begonnen hatte, mündete oberhalb des dritten Stockwerkes in einem durchgehenden horizontalen Mauerabschluß. Wie unerwartet der Wechsel der ästhetischen Ideen im Verlauf des Baues oft kam, zeigt auch die Tatsache, daß die nach innen gerichtete Seite des Südturms (also seine Nordseite) bereits vollständig ausgearbeitet war, bevor sie durch das eingefügte Glockenhaus unsichtbar und ihre Fassadengestaltung daher vollkommen überflüssig gemacht wurde.

          Bis heute erhitzen sich die Gemüter der Kunstgeschichtler an der Frage, ob es ein Gewinn oder eher der Ruin für die Fassade des Straßburger Münsters war, den Bereich zwischen den Turmuntergeschossen durch ein Glockenhaus zu schließen, dessen Fassadengestaltung sich noch dazu von derjenigen der übrigen acht Felder des Fassadenmassivs mehr als deutlich unterscheidet. Doch auch schon während der Bauzeit kam es über diesen Punkt zu einer dramatischen Zuspitzung. Klaus von Lohre, der Münsterbaumeister, der in völliger Abkehr vom ursprünglichen Zweiturmprinzip und vom Turmprinzip überhaupt jetzt gerade nur noch dieses mittlere Glockenhaus mit einem niedrigen Baldachin bekrönen wollte, anstelle von jedwedem Turm, wurde 1399 vom Rat der Stadt entlassen.

          An seine Stelle berief man Ulrich von Ensingen. Er war bereits an den verschiedensten Münsterbaustellen seiner Zeit tätig gewesen, so in Ulm, Basel und Mailand, und genoß einen hervorragenden Ruf als kühner Ingenieur. In einzigartig burschikoser Weise verwirklichte er auf dem in Straßburg bestehenden, scheinbar zu keinem Turm mehr zu gebrauchenden Massiv sein persönliches, eintürmiges Bauideal, dessen gewaltige vertikale Ambitionen dem Selbstverständnis der Straßburger Bürgerschaft schmeichelten und ihr half, über den eklatanten Verlust einer Symmetrie hinwegzusehen, die die Kirchenbaumeister seit 1175 am Münster durchgehalten hatten. Nach Ulrichs Tod vollendete Johannes Hültz aus Köln den Turm, dessen vertikale Ausdehnung er vorher noch einmal deutlich nach oben korrigiert hatte, im Jahre 1439. Aber von einer größeren Feierlichkeit zum Abschluß der Bauarbeiten des Münsters, mit dem Aufsetzen der Marienfigur auf die Spitze des Turms, in mehr als 142 Metern Höhe über der Ill, ist nichts überliefert.

 

 

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