VI. Vom Nutzen der Zeichnung: Die Gesamtanlage des Münsters
Kunst, auch Baukunst, kann nicht anders verstanden werden als durch ihre Betrachtung. Betrachtung aber meint in erster Linie nicht Reflexion, Nachsinnen, Spekulieren über Zusammenhänge gedanklicher Natur, sondern ganz einfach Sehen, Ansehen, Anschauen. Kunst ist für die Wahrnehmung mit den Augen geschaffen und kann nicht anders als mit ihnen aufgenommen werden.
Ein Bauwerk aber - und gerade das Straßburger Münster - ist so groß und komplex, daß das Sehen allein nicht ausreicht. Es ist nicht genug damit, um das Gebäude herum- und durch seine Räume hindurchzuschreiten, hier ein Detail wahrzunehmen und dort. Das Ganze will auch zusammengesehen werden. Schließlich bildet alles eine architektonische Einheit: die verschiedenen Perspektiven von außen, die Vielzahl der Innenräume, die Unmenge der baulichen und skulpturalen Einzelheiten, sie sind alle nur Aspekte ein und desselben großen Gebildes.
Wer eine Kathedrale verstehen will, der muß also zuerst Sehen, und dann muß er Vorstellen. Denn niemals sieht der Betrachter alles zugleich, das liegt in der Natur eines Bauwerkes. Immer ist er entweder draußen oder drinnen, auf der einen oder der anderen Seite stehend, in dem einen oder dem anderen Innenraum. Den Zusammenhang des Ganzen erfaßt er niemals allein mit den Augen. Wie aber behilft er sich? Mit der Erinnerung: an das gerade vorher Gesehene, und das davor Gesehene und noch weiter zurück. Und mit seinem Bewußtsein: dem Bemühen, all das nacheinander Gesehene in seiner Vorstellung zu einer Einheit zu bringen, zu einer Gleichzeitigkeit. Das erfordert Konzentration und Ausdauer. Aber wer es ernsthaft angeht und immer wieder versucht, wer sich durch anfängliche Schwierigkeiten nicht entmutigen, sondern im Gegenteil zum Üben und Lernen anregen läßt, der wird am Ende belohnt mit einer Erfahrung des Bauwerkes, die von geradezu meditativer Qualität ist: in der anhaltenden Betrachtung vereinen sich nicht nur die Aspekte des Bauwerks zu einem Ganzen, sondern schließlich werden auch Betrachter und Betrachtetes eins.
Vielleicht ist es also sinnvoll, daß wir uns einen Überblick über das gesamte Bauwerk verschaffen, bevor wir mit dem Rundgang und der Betrachtung des Einzelnen beginnen. Der Grundriß ist dazu hervorragend geeignet, enthält er doch, in zeichnerisch komprimierter Form, eine Fülle von Informationen und Zusammenhängen, die mit dem Auge zu sehen langwierig und oft schwierig ist. Natürlich ersetzt auch das Studium des Grundrisses das eigene Sehen nicht; aber es liefert einen Anhalt, mit dessen Hilfe wir uns, gerade zu Anfang, besser und schneller im Ganzen des Gebäudes orientieren können, und einen Rahmen, der das später Gesehen leichter zu einem Vorstellungsganzen zusammenzufassen hilft.
Wer Papier und Stift nicht scheut, der sollte versuchen, den Grundriß mit den hier gemachten Angaben selbst zu skizzieren. Die Grundanlage des Bauwerkes wird sich ihm so viel nachhaltiger einprägen als lediglich einen Moment lang in der Abbildung betrachtet. Natürlich lassen sich Skizze und Original des Grundrisses anschließend vergleichen - und so die Mängel unserer Beschreibung dingfest machen.
Wie das ottonische Wernher-Münster von 1015, so ist auch das neue, romanisch begonnene und dann im gotischen Stil weitergeführte Kirchengebäude, das ab 1176 entstand, als dreischiffige Basilika mit Doppelturmfassade und drei nebeneinanderliegenden, den drei Schiffen zugeordneten Portalen auf der Westseite angelegt. Die Portale führen in eine mächtige, dem Langhaus vorgelagerten Turmhalle, die den Unterbau für die beiden Türme bildet und zum Langhaus hin geöffnet ist. Auch das weit ausladende Querhaus wurde beibehalten, von der Höhe seines Firstes her fast denjenigen des Langhausmittelschiffes erreichend und mit einem Turm über der zentralen Vierung. So ergibt sich ein breit gelagerter Gesamtkomplex mit einer Längsachse (Chor - Vierung - Langhaus - Turmhalle) und zwei verschieden stark ausgeprägten Querachsen: dem Querhaus einerseits und dem massiven Westbau andererseits. Dieses vom ottonischen Vorgänger übernommene, klare und übersichtliche Bauschema ist aber, wie wir noch sehen werden, beim Neubau durch die verschiedensten, im Laufe der Zeit hinzugefügten Anbauten etwas verschleiert worden.
Von den westlichen Strebepfeilern bis zur Rückwand des Chors im Osten mißt das Gebäude eine Länge von 103 Metern. Das Querschiff hat, ohne die im Norden angebaute, sog. "ehemalige Laurentiuskapelle", eine äußere Nord-Süd-Ausdehnung von 58 Metern. Das Langhaus ist in sieben Joche unterteilt und hat eine Gesamtlänge von insgesamt 59 Metern, bei einer Breite von 36 Metern. Sein Mittelschiff ist etwa 16 Meter breit, bei einer Jochlänge von durchschnittlich achteinhalb Metern und einer Höhe von 33 Metern. Die Breite der Seitenschiffe beträgt etwa 10 Meter - womit die Seitenschiffjoche annähernd quadratisch werden-, ihre Höhe liegt bei 13 Metern.
Im Westen schließt sich an das Langhaus die erwähnte offene Turmhalle an (auch Narthex genannt), die den Kirchenraum um ein weiteres, dreischiffiges Joch vergrößert. Dieses ist aber sowohl etwas länger als die Langhausjoche, als auch - in den Seitenschiffen - etwas breiter, die seitlichen Turmjoche werden dadurch wiederum fast quadratisch. Sowohl die zwei inneren Pfeiler der Turmhalle (die sog. Turmpfeiler) als auch die äußeren Strebepfeiler dieses Westbaus heben sich durch ihre ungleich wuchtigeren Dimensionen deutlich von den (inneren) Arkaden- bzw. (äußeren) Strebepfeilern des Langhauses ab. Durch seine größere Breite gegenüber dem Langhaus, wie auch durch seine größere Höhe, bildet der Westbau eine deutlich Querachse im Gesamtbau, die aber nicht die Nord-Süd-Ausdehnung des Querhauses erreicht.
Das zweischiffige Querhaus besteht auf beiden Seiten der Vierung aus je 2 Jochen von einer Länge, die der Breite der Seitenschiffjoche des Langhauses entspricht. Weist die Vierung eine genau quadratische Grundfläche auf (was eine Voraussetzung für den achteckigen, diese Raumeinheit überkuppelnden Vierungsturm darstellt), so sind die beiden Flügel des Querhauses je etwas länger als breit. Ihre jeweils 2 x 2 Gewölbeeinheiten werden durch je zwei freistehende Pfeiler getragen, deren einer zentral in den Querhausflügeln steht (also in den Achsen der Langhausaußenwände) und deren anderer zwischen den südlichen bzw. den nördlichen Vierungspfeilern.
Der Chor wurde, zusammen mit der darunter liegenden Krypta, als einziges Element des Wernher-Baues in den Neubau übernommen. Er hat die Breite der Vierung, also auch die des Mittelschiffs des Langhauses, weist aber im Verhältnis zu den anderen der an die Vierung anstoßenden Raumteilen eine geringe Tiefe auf: sie erreicht die Breite des Chors und der Vierung nicht.
Der Chor des Wernher-Münsters schloß innen halbrund ab. Beim Neubau ummantelte man jedoch seine Innenwände im unteren Bereich und führte den Grundriß so in ein 5/8-Polygon über. Im oberen Teil behielt man die halbrunde Form bei, und auch der Gewölbeabschluß blieb eine Kalotte. Außen war der halbrunde Chor schon im ottonischen Bau in eine Rechteckform überführt. So ergaben sich hinter den Chorwandungen die mächtigen Mauerblöcke, die im Grundriß die Form von Zwickeln haben und in die Wendeltreppen eingelagert sind. Diese haben zu der Vermutung geführt, der Chor des ottonischen Münsters könnte ebenfalls von einem Turm überbaut gewesen sein.
Beiderseits des Chors wurden schon früh flache Kapellen angefügt, die von den inneren östlichen Querhausjochen durch schmale Türen bzw. Durchgänge erreichbar sind. Sie haben die Breite der Seitenschiffe des Langhauses und die Tiefe des Chors, so daß sie dem Gesamtgebäude im Osten einen rechteckigen äußeren Abschluß verleihen, der in der Breite demjenigen des Langhauses entspricht und dessen dreischiffige Grundanlage widerspiegelt.
Die bisherige Symmetrie im Aufbau des Münsterplans wird nun aber durch einen Anbau gestört, der aus spätgotischer Zeit datiert: die ehemalige Laurentiuskapelle, die den nördlichen Querhausflügel auf seiner gesamten Breite nach Norden um fast eine Querhaus-Jochlänge verlängert. Sie heißt deshalb "ehemalig", weil heute ein anderer Bauteil des Münsters diese Bezeichnung trägt, nämlich die ehemalige Martinskapelle. Und die ursprüngliche Anlage des Grundrisses von Lang- und Querhaus, in der Form eines lateinischen Kreuzes, ging vollends verloren durch den Anbau zweier weiterer Kapellen, diesmal in die Nischen zwischen den Querhausflügeln und den Seitenschiffen des Langhauses. Diese beiden rechteckigen Kapellen, ebenfalls in der Zeit der Hochgotik entstanden, haben je eine Länge von zwei Langhausjochen und eine Breite, die diejenige der Seitenschiffe des Langhauses etwas übersteigt (ehem. Martinskapelle, also heutige Laurentiuskapelle im Norden) bzw. unterschreitet (Katharinenkapelle im Süden).
Östlich der beiden äußeren Joche der Querhausflügel, also neben den Seitenkapellen des Chors, aber an diese nicht angebaut, entstanden zwei Sakristeien, die bedeutendere, nördliche, in der Mitte des 18. Jahrhunderts über achteckigem Grundriß (sog. Massol-Sakristei, nach dem Architekten Joseph Massol). Der Kapitelsaal war schon zu frühgotischer Zeit über der flachen Johanneskapelle (nördlich des Chors) plaziert worden, über der Andreaskapelle (südlich des Chors) dagegen eine Sängertribüne mit dahinterliegendem Tresorraum.
Ebenfalls im 18. Jahrhundert entstanden die hohen, neogotischen Schranken, die außen vor die Nord- bzw. Südwand des Münsters gestellt sind, den Westbau mit den Querhausfassaden verbinden und so die Flanken des Kirchenbaus beinahe lettnerartig abschirmen. Im Osten, dort wo einst der berühmte, aber 1570 abgerissenen Münsterkreuzgang stand (der Bruderhof), ist an das Münster heute ein ausgedehnter Seminar- und ein Gymnasiumskomplex angeschlossen, die beide zusammen den Blick auf diese Seite der Kathedrale weitestgehend verstellen.
Weiter mit dem nächsten Kapitel
|