Pisa © Roland Salz 2000 - 2015
Roland Salz                                                                      
                                                                      Meditationen über Architektur

XIII. Der Südflügel des Querhauses

 

Ganz am linken Rand der Sängertribüne, über dem Doppelportal zur Andreaskapelle, scheint jemand zu stehen. Ein eher kleiner Mann stützt sich mit beiden Ellenbogen auf die maßwerkdurchbrochene Brüstung und wendet den Kopf schräg nach oben. Mit einem Gesichtsausdruck, der noch unentschlossen zwischen Ehrfurcht und Unglauben zu schwanken scheint, betrachtet er den zentralen Pfeiler des südlichen Querschiffes. Die fast lebensgroße Figur trägt eine Mütze auf dem Kopf, die diejenige eines Münsterbaumeisters sein könnte.

          Aber im nächsten Moment staunen wir selbst ungläubig: durch die Fischblasenöffnungen des Maßwerks erkennen wir, daß der Figur Unterleib und Beine fehlen. Es handelt sich lediglich um eine steinerne Büste, die auf die Oberkante der Maßwerkbrüstung gesetzt ist.

           Wieder einmal sind wir bei der Frage nach der Bedeutung dieser Figur auf Spekulationen angewiesen. Sicher scheint heute, daß die Plastik gegen Ende des 15. Jahrhunderts entstanden ist und entweder ein Portrait oder ein Selbstportrait eines der damaligen Münsterbaumeister darstellt. Mit etwas Phantasie kann man einen originellen Impuls von Autoreflexion seitens der Baumeister erkennen: in dem ihnen vertrauten Medium, dem skulptierten Stein, haben sie - im Werk selbst - eine Reflexion auf und über das Werk angelegt und der Nachwelt hinterlassen. Ganz bildlich: der Baumeister blickt bedächtig auf das geschaffene Werk.

          Heute blickt, wie wir sehen, der Baumeister noch zwar immer nach oben, den Pfeiler empor, aber er hat keinen Körper mehr. Er ist längst tot. Nicht er als Person zählt, als Namen, sondern nur das Vollbrachte: wer weiß, mit wieviel architektonischem Mut, mit wieviel unternehmerischen Mühen und mit wieviel Rückschlägen. Geblieben ist der Pfeiler. Und nur wir es, die ihn heute mit lebendigen Augen betrachten und würdigen können.

 

Der Engelspfeiler, wie er meist genannt wird, stellt einen der künstlerischen Höhepunkte des Straßburger Münsters dar. Im Zentrum des südlichen Querhauses stehend, gibt er diesem Raumteil die entscheidende Prägung. Bevor wir uns ihm aber zuwenden, wollen wir sein räumliches Umfeld betrachten. Nur mit Hilfe von zeichnerischen Schnitten durch das ganze Querhaus können wir die Gemeinsamkeiten und Unterschieden in der Wandgestaltung der beiden Flügel wirklich anschaulich studieren. Wir haben bereits die beiden inneren Hälfte der Untergeschosse der Ostwand verglichen, mit ihren jeweiligen Portalöffnungen zu den Apsiskapellen. Betrachten wir nun die äußeren Wandhälften, so entspricht dem Stellplatz der romanischen Monumentalnische vor der großen rundbogigen Blendarkade im Nordflügel derjenige der "Astronomischen Uhr" im Süden.

          Zum Glück ist es erst kurz nach elf Uhr vormittags. So haben wir noch mehr als eine halbe Stunde Zeit, um das südliche Querhaus zu betrachten, bevor sich - mit astronomischer Gewißheit - gegen zwanzig vor zwölf über alle Münsterlautsprecher das "Uhrenspektakel" ankündigt. Dann muß das Münster geräumt werden, denn das mittäglich-mechanische Schauspiel der Astronomischen Uhr ist nur gegen ein kleines Entgelt zu bewundern.

          Waren die beiden Schildmauern der Ostwand im Nordflügel nur von je einem Spitzbogenfenster durchbrochen, so sind es im Südflügel je zwei, von zudem deutlich größerem Format. Auch beim Blick auf die Südwand verstehen wir, warum es im Südflügel so viel heller ist als im Nordflügel: auch deren beide Schildwände sind oben durch je einer Rose, darunter aber, im Gegensatz zum Norden, durch je zwei nebeneinanderliegenden Fenster belichtet. Und auch am späten Nachmittag kann noch genügend Licht in den Südflügel gelangen: im Obergeschoß der Westwand haben wir - anstelle der jeweils einfachen Fenster im Norden - rechts zwei nebeneinanderliegende Rundbogenfenster und links ein großes Spitzbogenfenster, das im Unterschied zu allen anderen Querhausfenstern maßwerkverziert ist.

          Gemeinsamkeiten mit der Westwand des Nordflügels sind aber auch zu entdecken: die Arkadenbögen zu den Seitenschiffen sind gleichartig gestaltet. Und auch im Südflügel sind die Fenster des Obergeschosses alle leicht nach Süden aus der Achse verschoben.

           Der markanteste Unterschied im Aufbau des unteren Südflügels, im Vergleich zum Nordflügel, liegt im Portalbereich der Südwand. Der dreifache zentrale Runddienst ist hier vom Boden aus hochgezogen, denn es liegt ihm kein Mittelportal im Weg. Statt dessen finden wir links und rechts, unmittelbar angrenzend an die schweren Dienste, je ein schmales und nicht sehr hohes Spitzbogenportal mit innen einfacher Laibung und quaderförmigem Sturz. Links und rechts der beiden Portale ist die Wand durch je eine romanische Dreifach-Blendarkatur von ähnlichem Typus wie beim Nordflügel gegliedert. Eine weitere derartige Arkatur sehen wir am südlichen Ende des Untergeschosses der Westwand.

          Große Teile der Querhauswände sind also mit ihren Entsprechungen im Nordflügel zumindest verwandt und lassen auf eine jeweils zeitlich benachbarte Bauzeit schließen: die unteren Ostwände, die unteren Fassadenrückwände und die Westwände mit Ausnahme ihrer äußeren Schildbögen. Wurde aber der Nordflügel noch im spätromanischen Stil vollendet, so "bricht" über den Südflügel, im wahrsten Sinne des Wortes, die Gotik hinein. Plötzlich werden die schweren, vom Untergeschoß hochgeführten (Südwand) oder auf Pfeifenkonsolen abgesetzten (Westwand) Dienste oberhalb der Gurtgesimse völlig anders weitergeführt: an der Südwand durch ein Dreifachdienstbündel, das so schlank ist, das es vollständig auf dem mittleren der drei Dienste des Untergeschosses aufsitzt; an der Westwand auf einer zweiten Konsole, knapp oberhalb der mitten drin abgebrochenen Pfeifenkonsoldienste. Die Brüche werden nicht einmal verdeckt oder abgemildert, sondern einfach stehengelassen. Die mit der neuen, aus Frankreich kommenden gotischen Bauweise vertrauten Meister scheinen, im Gegensatz zu ihren romanischen Vorgängern, keine Zeit mehr dafür gehabt zu haben, halbwegs harmonische Übergänge zu den bereits errichteten Partien des Münsters zu schaffen. Offenbar ging es ihnen allein darum, ihre neuen Ideen möglichst schnell umzusetzen. So entsteht für uns heute der Eindruck eines gotischen Südflügels, errichtet auf den halbhohen Mauern einer romanischen Ruine.

          Innerhalb von nur 15 Jahren, von etwa 1225 bis 1240, wurde das Querhaus vollendet, an dem die romanischen Meister schon über 50 Jahre lang gearbeitet hatten. Effizienz schein ein Geheimnis der gotischen Meister gewesen zu sein. Aber dies auch in einer anderen, eher werkbezogenen Hinsicht: effizient sind auch die von ihnen geschaffenen architektonischen Konstruktionen. Die Wände brauchen nicht mehr so breit und dunkel vermauert zu sein, Skelettwände voller Fensteröffnungen tun es auch; und die schweren, wulstigen Dienste lassen sich durch überschlanke ersetzen, die wie elastische Pflanzenstengel wirken und sich oben zu dünnen Gewölberippen auffächern; und die Konsolen der Dienste lassen sich skulptieren, so daß kleine Atlanten und Negroide das Gewölbe zu tragen scheinen...

          Der Lautsprecher knackt hörbar. Tatsächlich: schon zwanzig vor zwölf! "Mesdames et messieurs, ... nous fermons maintenant ... ...", knack, " Meine Damen und Herren ... wir schließen jetzt ... Alle Personen, die sich im Münster befinden, sind es gebeten zu verlassen. Ich wiederhole: Alle Personen, die sich im Münster befinden, sind es gebeten zu verlassen."

          Resigniert nehmen wir zur Kenntnis, daß wir die Betrachtung des Engelspfeilers nun um mindestens eine halbe Stunde werden verschieben müssen. Wir werden vielleicht etwas essen gehen, beschließen wir, während wir uns in die Karawane einreihen, die sich langsam und gefügig nach Westen in Bewegung gesetzt hat, in Richtung zum Eingangsportal. Zu einem Flammkuchen wird es jetzt nicht reichen, aber doch zu einem guten Eisbecher und einem Café au lait in der Eisdiele gegenüber.

          Einige Male, als der gleichermaßen langsame wie lautstarke Zug der "Schafe" ins Stocken zu geraten droht, helfen gute Hirten, in Gestalt von geduldigen Münsterwächtern, mit aufmunternden Worten weiter in Richtung zum Ausgang. Dann jedoch, in Höhe des Portals kommt es zu tumultartigen Szenen. Der plötzliche Aufbruch aller Besucher des Münsters nach draußen blockiert die Eingänge. Der stetige, gleichmäßige Neuzufluß in die Kathedrale hinein kommt so ins Stocken, wenn nicht gar zum Stillstand. Erregte Reiseleiterinnen, die es mit ihren bunten, aufgespannten und hoch emporgereckten Schirmen fast noch geschafft hätten, hineinzukommen, versuchen es jetzt mit Gewalt - denn der Bus muß schließlich weiter. Rentnergruppen, mit Schlägermützen und souvenirbeschlagenen Spazierstöcken bewaffnet, verleihen ihnen den nötigen physischen Nachdruck.

           Aber einer hier hat die Lage fest im Griff. Von hünenhafter Gestalt und wohlweislich des Deutschen mächtig, ruft er, mit einer Freude im Tonfall, als begrüße er, nach langer, entbehrungsreicher Schiffsfahrt, endlich das gelobte Land, und in einer Lautstärke, als wolle er diese Freude auch noch dem letzten der Hals über Kopf herbeiströmenden Wilden mitteilen: "Wir schließen!"

 

 

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