XI. Der Nordflügel des Querhauses
Die in der Vierung noch halbwegs vorhandene Einheitlichkeit der Strukturierung und des Baustils geht in den Seitenflügeln des Querhauses vollends verloren. Die Wände des Nordflügels zum Beispiel sind nicht nur alle drei völlig unterschiedlich gestaltet, sondern zeigen oft sogar in sich schwerwiegende Brüche.
Der erste Eindruck von diesem Raumteil, der gegen die Vierung heute durch eine an deren Nordflanke aufgestellte große Orgel fast völlig abgeteilt ist, ist von Schwere, Dunkelheit und vor allem von einer Dimensionierung gekennzeichnet, die jedes menschliche Maß hinter sich läßt. Von relativ überschaubarem Grundriß erstreckt sich der Nordflügel in eine enorme Höhe; dies macht es dem Besucher fast unmöglich, einen Standpunkt für seine Gesamtbetrachtung zu finden, geschweige denn einen Punkt, an dem er angesichts dieser Sandsteinmassen innerlich zur Ruhe kommen könnte. Es nimmt also nicht Wunder, daß in dem gesamten Flügel keinerlei Sitzgelegenheiten aufgestellt sind, ebensowenig wie im südlichen Pendant.
Der "Schwere" der Raumhöhe entsprechen die beiden massiven Rundpfeiler, die das Kreuzrippengewölbe diese Flügels tragen. Der zwischen die Vierungspfeiler eingestellte, auf einem hohen, kubischen Sockel ruhende ist dabei von besonderer Wuchtigkeit, trägt er doch zusätzlich an der Vierungskuppel mit. Aber auch der Zentralpfeiler und die den Wänden mittig vorgelegten, schweren Runddienste erstrecken sich vom Boden aus in eine Höhe, die den Sichtkreis des Betrachters, der keinen rechten Abstand zu ihnen gewinnen kann, überschreitet. Selbst die Gewölbe recken sich noch nach oben, sind sie doch fast bis zur Kuppelförmigkeit "gebust": ihre Scheitelpunkte liegen deutlich höher als diejenigen der Schildbögen und der Gurte. Fast hat man den Eindruck, als ob in diesem Raumteil der eigentlich schon gotische Drang nach Höhe mit den Mitteln romanischer Baukunst zu erfüllen versucht wurde.
Den ältesten Teil des Nordflügels bildet die untere Hälfte seiner Ostwand. Sie geht vermutlich auf die Zeit unmittelbar nach Baubeginn (1176) zurück und wird dem "Meister des flachgedeckten Querschiffes" zugeschrieben, der bis ca. 1190 die Bauleitung innehatte. Die Ostwand ist insgesamt durch ein Gesims in zwei Geschosse gegliedert, das etwa auf halber Höhe liegt und damit genau zwischen den Kämpferlagen (1) und (2) der Vierungspfeiler. Rechts und links des mittigen, gewölbetragenden Runddienstes nehmen zwei große, runde Blendbögen die beiden Wandstücke des Untergeschosses ein. Auf der linken Seite ist die Blendarkade durch ein Gesims nochmal in der Höhe halbiert. Darüber sind dem großen Rundbogen zwei kleinere, ebenfalls nur vorgeblendete Rundbögen eingeschrieben. Mit goldenen Buchstaben auf blaugrünem Grund enthalten sie, in altdeutscher Sprache, die zehn Gebote.
Hinter dieser inneren Ostwand des Nordflügels befindet sich die Johanneskapelle, und über ihr der Kapitelsaal, wobei das in die Blendarkade eingezogene Gesims die Geschoßgrenze zwischen beiden markiert. Dieser hinter der Ostwand gelegene Bauteil ist aber erst später, in gotischer Zeit hinzugekommen. Zwar befand sich an der Stelle nördlich des Chors, genau wie gegenüber, auf dessen Südseite, wahrscheinlich schon zu ottonischer Zeit eine Kapelle. Diese wurde aber im Zuge des Neubaus abgerissen, und der freiwerdende Bereich sollte ursprünglich nicht wieder bebaut werden. Dies zeigt sich an den äußeren Mauersockeln von Querhaus- und Chorwand, die als Gebäudeaußenwände gestaltet sind, heute aber im Innern der Johanneskapelle liegen.
Im Zuge der nachträglichen Anlage von Kapelle und Kapitelsaal mußte auch die innere Ostwand des nördlichen Querhauses umgestaltet werden. Unterhalb des rechten der beiden kleinen Rundbögen wurde die Mauer geöffnet und ein gotisches Spitzbogenportal eingefügt, das durch Gewände und Maßwerk geschmückt ist. Für die neue, spitzbogige Bauform war das geschoßteilende Gesims unterhalb der beiden kleinen Rundbögen jedoch zu niedrig angelegt, und so schneiden die obersten Archivolten des Portals einfach in dieses hinein. Die unvermeidlichen Brüche, die beim Stilwechsel von der Romanik zur Gotik auftreten, zeigen sich am Portal der Johanneskapelle also schon exemplarisch: zum Beispiel auch daran, daß das neue Portal, durch die Gewände deutlich breiter als die beiden kleinen Rundbögen darüber, nicht genau unter dem rechten von ihnen in der Achse liegt, sondern etwas nach links, zur Mitte hin versetzt.
Kommen wir zur linken der beiden großen, rundbogigen Blendarkaden im Untergeschoß der Ostwand. Ihr wurde schon vom "Meister des flachgedeckten Querschiffes" ein ganz einzigartiges Bauglied vorgestellt. Es handelt sich um eine Art von monumentalem, steinernem Tor. Sind die Außenseiten des etwa einen Meter tiefen und die Höhe des Blendbogens erreichenden Gebildes im wesentlichen rechteckig und das Ganze von einem Dreiecksgiebel überspannt, so ist die Innenseite als romanisches Gewände mit rundbogigen Archivolten gearbeitet. So bildet das gegen die nördliche Ostwand gestellte Steintor eine Nische, in der anfänglich vermutlich der Laurentiusaltar seinen Platz hatte, der der gleichnamigen Pfarrgemeinde des Münsters zugeordnet war.
Der Name des hl. Laurentius ist mit dem nördlichen Querhausflügel aufs engste verbunden. Wir werden ihm wiederbegegnen, wenn wir uns mit der um 1500 an die äußere Nordwand des Nordflügels angebauten ehemaligen Laurentiuskapelle und ihrem Laurentiusportal beschäftigen, sowie mit der ab 1515 in die Nische zwischen Querhaus und nördlichem Langhausseitenschiff gesetzten, ehemaligen Martins- und heutigen Laurentiuskapelle.
Die Aufstellung eines torartigen Portalgewändes als Monumentalnische im Innern eines Kirchenraumes ist in der Geschichte des Kirchenbaus nahezu ohne Vergleich. Das Gewände besteht aus neun gestaffelten Säulenvorlagen mit entsprechenden Archivolten. Der Dreiecksgiebel dieses "Portikus" ist mit einem steigenden Bogenfries verziert. Das interessanteste Merkmal entdecken wir jedoch erst, wenn wir uns, an die wuchtigen Ausmaße des Gebildes einigermaßen gewöhnt, dem Anblick aus der Nähe zuwenden. Dann fallen uns jene beiden fein gearbeiteten Friese ins Auge, die als durchgehende Kapitellzonen die seitlichen Säulenstaffeln bekrönen. Auf der linken Seite erkennen wir dann am Kopfende eine Sirene, die ihr Junges säugt. Ihre Schwanzflosse ist mit dem Hals eines merkwürdigen Wesens verschlungen, das den Kopf eines Hundes, den Körper eines Vogels, die Hufe eines Pferdes und den Schwanz eines Fisches hat. Dieses Wesen ist wiederum mit einem gleichartigen Wesen hinter sich verschlungen, und jenes mit noch vier weiteren. Der rechte Fries dagegen wird von einem Geflecht von Bändern eingenommen, die eine besondere symbolische Bedeutung zu haben scheinen: während am hinteren Ende ein Mann die Stränge kunstvoll verflicht, schein am vorderen Ende ein anderer Mann mit ihnen zu kämpfen, wie Laokoon mit den Schlangen, während eine Art von Drachen dicht neben ihm wartet.
In der Nische steht heute das eindrucksvolle, spätgotische Taufbecken des aus Worms gebürtigen Münsterbaumeisters Jodoc Dotzinger von 1453.
Das Obergeschoß der Ostwand wir von zwei breiten, gespitzten Schildbögen abgeschlossen. In die Wandpartien unter ihnen ist jeweils nur ein einzelnes, schmales Spitzbogenfenster eingelassen, was eine relativ "dunkle" Lösung für diesen durch seine Nordausrichtung sowieso wenig begünstigten Raumteil bedeutet.
An der Nordwand, also der Rückseite der Fassade des nördlichen Querhauses, werden wir von neuen architektonischen Merkwürdigkeiten überrascht. Wiederum zerlegt ein Gurtgesims die Wand in zwei Geschosse. Es befindet sich aber deutlich tiefer als dasjenige der Ostwand, und zwar in Scheitelhöhe des zentral in die Wand eingelassenen Portals. Die Türöffnung, die im Innern kein Gewände besitzt, ist rundbogig überfangen und zudem mit einem einfachen, quaderförmigen Sturz versehen. Auf zwei links und rechts vor den Portallaibungen stehenden Säulen erhebt sich nun aber noch ein Spitzbogen, innen der Wand vorgelegt, der etwas höher als der dahinterliegende Rundbogen des Portals aufragt. Und auf diesem vorgebauten Spitzbogenrahmen ruht die mächtige Rundvorlage mit ihren zwei schmaleren Seitendiensten, die den Bandgurt und die birnstabprofilierten Rippen des Gewölbes tragen!
Während das - relativ hohe - Obergeschoß der Nordwand wie die anderen Wände durch den Runddienst zweigeteilt ist, mit auf jeder Seite einem schmalen, spitzbogigen Fenster und darüber, im gespitzten Schildbogenfeld, einer Rosette, weist das Untergeschoß eine Dreiteilung auf: links und rechts des durch den vorgestellten Spitzbogenrahmen stark aufgewerteten Portals finden wir je eine dreifache, rundbogige Blendarkade, auf zierliche Säulen mit großen Kapitellköpfen gestellt und überfangen je von einem großen, gespitzten Entlastungsbogen, der mit demjenigen des Portalrahmens harmonisiert.
Die Vermutung liegt nahe, daß es während des Bauverlaufs der Wand zu einem Planwechsel gekommen ist: das untere Geschoß war ursprünglich noch nicht auf eine Zweischiffigkeit des Raumes ausgelegt; deren Realisierung bedingte, wegen der Notwendigkeit eines zentralen Wanddienstes für das Gewölbe, die Hinzufügung des spitzbogigen Portalrahmens, das diesen aufnehmen konnte. Oder hatte der "Meister des nördlichen Querhauses" vor, die Gewölbedienste oberhalb des zentralen Portals auf Konsolen abzusetzen, wie wir dies an der Westwand des Nordflügels vorfinden werden? Oder, noch eine Möglichkeit, war der auf den Portalrahmen gestellte Runddienst gar eine originelle architektonische Idee von Anfang an? Immer wieder könnte man sich solche Fragen stellen, und die Kunstgeschichte kann sie bis heute nur mit Hypothesen und Gegenhypothesen beantworten. Endgültige Gewißheit über die 800 Jahre zurückliegenden Entstehung wird man wahrscheinlich nie mehr erlangen.
Wir wollen uns deshalb erneut von den Spekulationen ab- und der Wand an sich, mit ihren rötlichen Sandsteinquadern zuwenden. Dann entdecken wir, im Gegensatz zu der Monumentalität der Ostwandgestaltung, hier viele deshalb erfreuliche Einzelheiten, weil sie sich auf unsere Augenhöhe "herabgelassen" haben: die angenehm proportionierten Säulchen der Blendarkaturen zum Beispiel, oder aber ihre verspielten Kapitelle, aus deren Pflanzenornamenten hier und dort kleine menschliche Köpfe herausschauen.
Die Westwand des nördlichen Querhausflügels weist nur in der linken Hälfte ein geschoßbildendes Gurtgesims auf. Es korrespondiert hier mit der Höhe der Kämpferlage (2) der Vierungspfeiler. Der sich zum nördlichen Seitenschiff des Langhauses öffnende Spitzbogen des Untergeschosses zeigt ein dreifach rechtwinklig abgetrepptes Profil, genau wie der Triumphbogen zwischen Vierung und Langhaus. Der Bogen zwischen Querhausflügel und Seitenschiff ist viel schwerer und auch etwas niedriger als die übrigen, gotischen Gurtbögen des später entstandenen Seitenschiffes. Auffällig ist die Gestaltung seiner nördlichen Stütze. Zwar finden wir hier ebenfalls, wie auf der gegenüberliegenden Bogenseite, eine Kapitell- und Kämpferzone in der Höhe der Lage (1) des Vierungspfeilers. Aber der innerste Bogen ruht nicht auf einer Säule, sondern einer Konsole. Diese ist wie ein Runddienst gearbeitet ist, der langsam diagonal in die Wand eintaucht und darin einige Meter über dem Boden verschwindet.
Das einfache Fenster des Obergeschosses, über der Arkade zum Seitenschiff, ist als einziges im nördlichen Querhausflügel rundbogig, und es ist etwas nach innen (Süden) aus der Achse verschoben.
Im Gegensatz zu den anderen beiden Wänden ruht der Bandgurt des Gewölbes an der Westwand nicht auf einem ihr mittig vorgestellten Rundpfeiler, sondern einer sog. Pfeifenkonsole: einer rundprofilierten Wandvorlage, die zuerst lotrecht und mit gleichbleibendem Querschnitt, also wie eine große Orgelpfeife nach unten verläuft, bevor sie sich dort verjüngt und schließlich punktförmig als Konsole endet. Die zwei schmaleren, ebenfalls rundprofilierten Seitendienste, die die birnstabförmigen Diagonalrippen des Gewölbes tragen und die an den beiden anderen Wänden jeweils auf dem geschoßteilenden Gurtgesims ansetzen, entspringen vor der Westwand ebenfalls auf Pfeifenkonsolen, die jedoch höher als beim mittleren Dienst angebracht sind.
Auf der rechten, nicht durch ein Gesims gegliederten Seite der Westwand liegt in der Schildmauer ein einzelnes, wiederum nach links aus der Achse verschobenes, aber auf deutlich niedrigerer Höhe eingelassenes Spitzbogenfenster. Der untere Wandabschnitt tut sich mit einer - diesmal nach rechts - aus der Achse verschobenen Spitzbogenarkade, die gegenüber dem Durchgang zum Seitenschiff deutlich kleiner und zudem heute vermauert ist, auch nicht durch mehr Symmetrie hervor. Man hat das "Problem" dieser Ecke des Nordflügels aber heute dadurch gelöst, daß man ihr eine großformatige Skulptur vorgestellt hat: die Figurengruppe von "Jesus am Ölberg", ein spätgotisches Meisterwerk des Veit Wagner aus dem Jahre 1498, für das der Künstler neben Stein auch Holz und Gips verwendete.
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