Pisa © Roland Salz 2000 - 2015
Roland Salz                                                                      
                                                                      Meditationen über Architektur

XVIII. Von Wasserspeiern und Münsterkletterern: Das Äußere des Langhauses

 

Im Unterschied zum Querhaus, dessen Entstehung (1175-1230) in eine baustilistisch turbulente Zeit fällt, die, wie wir gesehen haben, ihre Spuren in den vielfältigen, überall zutage tretenden Brüchen hinterlassen hat, ist das Langhaus des Straßburger Münsters von bemerkenswerter, wenn auch nicht vollständiger Einheitlichkeit. Auch hier sind im Bauverlauf der sieben Joche von Ost nach West (1230-1275) stilistische Weiterentwicklungen und sogar ein kleiner Bruch zu erkennen, allerdings erst bei sehr genauem Hinsehen. Der Baustil des Münsters ist jetzt klar demjenigen der französischen Hochgotik verpflichtet, und dies stellt auf dem deutschen Reichsgebiet ein Novum dar. Straßburg bildet also das "Einfallstor" für die Gotik in das Reich, und die von hier ausgehenden Einflüsse lassen sich bis nach Magdeburg oder sogar Stralsund verfolgen.

          In ihren architektonischen Konzeptionen haben sich die Baumeister des Straßburger Langhauses bisweilen sehr deutlich an den großen französischen Kathedralbaustellen der Zeit orientiert: unumstritten ist heute, daß insbesondere der Umbau der Abteikirche Saint-Denis sowie Notre-Dame de Paris als Vorbilder dienten. Trotzdem kann in keiner Weise von einem bloßen Kopieren gesprochen werden. Immer wurden nur einzelne Elemente und Prinzipien übernommen; das Gesamtgefüge gestaltete die Straßburger Bauhütte nach eigenem Stilempfinden. Dies wird leicht klar, wenn man die beiden genannten Vorbilder mit dem Straßburger Münster vergleicht: von einem analogen oder auch nur ähnlichen Raumeindruck kann hierbei keine Rede sein.

          Von den Kunstkritikern wird vor allem die starke Breitenwirkung des Straßburger Langhauses immer wieder hervorgehoben. Vergleicht man seine Maße mit denen der großen französischen Kathedralen, so ist seine Höhe nur mäßig, die Länge und Breite der Joche dagegen beachtlich. Die kunstgeschichtliche Begründung dieses Phänomens fällt dagegen, wie zu erwarten, unterschiedlich aus: während einige hierfür den alten ottonischen Grundriß des Münsters verantwortlich machen, sehen andere darin eher ein Moment spezifisch deutschen Stilempfindens. In jedem Fall aber läßt sich feststellen, daß das Straßburger Münster, als ein Kathedralenbau im deutschen Reichsgebiet, naturgemäß französisches und deutsches Stilgefühl vereinen mußte.

          Die Außenwände des Langhauses zeigen eine dreifache, wohlproportionierte Staffelung: hinter den etwa sechs Meter hohen Außenschranken steigen, in einigem Abstand, die Wände der Seitenschiffe auf, und hinter ihnen, von Strebebögen gestützt, diejenigen des Hochschiffes. Alle drei Wände weisen gemeinsame Merkmale auf: sie sind von gleichmäßig gereihten, spitzbogigen Fensteröffnungen durchbrochen und oben mit Maßwerkbalustraden gesäumt. Die Gemeinsamkeiten von Seiten- und Hochschiff gehen noch weiter: über beiden erheben sich Satteldächer mit fast gleicher Dachneigung, jeweils von kleinen Gaubenfenster (einem pro Joch) geziert. Und auch der Wandaufbau ist stark angeglichen: Seiten- und Hochschiff werden von breiten, die gesamte Wand zwischen den Jochgrenzen ausfüllenden Fenstern belichtet. Selbst noch der Aufbau ihres Maßwerkes ist identisch: jeweils vier schmale Spitzbögen werden paarweise zusammengefaßt. Über den Paare erscheint ein Rundfenster mit eingeschriebenem Vierpaß, über dem Geviert ein größerer Oculus mit Sechspaß.

          Die Außenschranken sind, wie wir erwähnt haben, erst im 18. Jahrhundert entstanden. Der Grund ihrer Anlage war damals nicht, die Außenwände des Münsters unzugänglich zu machen. Vielmehr dienten sie dem Zweck, die vielen Verkaufsbuden, die sich im Laufe der Zeit wie Parasiten an die Außenwände des Münsters angelagert, dort festgesetzt und immer weiter vermehrt hatten, wenn nicht gänzlich zum Verschwinden, so doch wenigstens in einem uniformen, dem gotischen Gebäude angemessenen Rahmen unterzubringen. Jedem Verkaufsstand wurde daher eine der Arkadenöffnungen zugewiesen. Die Errichtung neogotischer Bauteile ist für das 18 Jahrhundert bemerkenswert; allerdings kamen, dem damals vorherrschenden Stil entsprechend, die Schranken nicht ganz ohne einige klassizistische Details aus. Erst im 19. Jahrhundert, als die Läden endgültig vom Münster weichen mußten, fügte man den Arkaden das neogotische Schneußmaßwerk ein, das wir heute sehen. Um diese Zeit verfiel man auch auf die Idee, die kleinen Gaubenfenster der Seitenschiffe des Münsters im Stil der Neorenaissance (!) einzufassen.

          Trotzdem, die Flanken des Langhauses ergeben ein harmonisches Gesamtbild. Die Seiten- und Hochschiffwände bilden, wenn wir sie denn ins Auge fassen können, sei es, indem wir ganz an die Maßwerkschranken herantreten und durch ihre Öffnungen hindurchsehen, oder aber umgekehrt, indem wir weitestmöglichen Abstand nehmen, ein basilikales Ensemble erlesenster Hochgotik. Die Strebepfeiler steigen zuerst als rein monolithische, rechteckige Blöcke senkrecht bis zur Traufenhöhe der Seitenschiffe auf. Dort sind sie durch je einen kleinen Blendgiebel und darunter einen großen Wasserspeier ausgezeichnet. Oberhalb der Trauflinie flieht die Vorderseite der Pfeiler schräg nach hinten, während die hintere Schmalseite zurückspringt, so daß der Pfeiler insgesamt optisch an Tiefe gewinnt. Hinter der Balustrade befindet sich ein Laufgang, der tunnelartig durch jeden der Strebepfeiler hindurchgeführt ist.

          Etwa auf Firsthöhe des Seitenschiffdaches schließt der monolithische Teil des Strebepfeilers mit einem Gesims und zwei weiteren, über Eck gestellten Wasserspeiern ab. An dieser Stelle setzt die geradlinige, diagonale Oberkante des Strebebogens an. Seine Unterkante beschreibt dagegen einen konkaven Viertelkreis, der von der Hochschiffwand kommend bis zur Traufenhöhe der Seitenschiffe herunterläuft, allerdings kurz vorher in die Dachschräge eintaucht und dem Betrachter unsichtbar wird. Die Strebebögen sind alle im oberen Zwickel von einem Oculus mit Vierpaßmaßwerk durchbrochen. Der Ansatzpunkt ihrer Oberkante an der Hochschiffwand ist wiederum durch einen Wasserspeier markiert; tatsächlich wird das von der Traufe der Hochschiffwand kommende Regenwasser über eine auf der Oberkante des Strebebogens angelegte Rinne abgeleitet und unten von den beiden erwähnten, über Eck auf Gesimshöhe an den Strebepfeilern stehenden Bestien ausgespien.

          An der Hochschiffwand werden die Strebebögen von schlanken, frei vorgestellte Säulen unterstützt, während über ihnen Säulenvorlagen bis zur Trauflinie hochlaufen, wo sie, oberhalb der Balustrade, von schlanken Fialen bekrönt sind. Die Säulen und Säulenvorlagen sind so schmal, daß sie in einen merkwürdigen Kontrast treten zu dem massiven Strebewerk. An der Hochschiffwand selbst sind die Druck- und Schubkräfte des Gewölbes nicht abzulesen. Sie ist praktisch völlig flach, die tragenden Pfeiler des Obergadens treten so gut wie nicht plastisch vor. So ergibt das Stützwerk des oberen Langhaues den Eindruck einer Hand, deren Finger (Strebepfeiler und -bögen) ein rohes Ei (Hochschiffwände) halten.

          Auf der Grundlage dieses klar gegliederten Aufbaus sind die Flanken des Langhauses reich mit Skulpturen geschmückt. Auf den Strebepfeiler sitzen, oberhalb der erwähnten Gesimse, Tabernakel auf. In ihre sich nach drei Seiten öffnenden Nischen sind Heiligenfiguren eingestellt. Auch die Blendgiebel am Ansatzpunkt der Schrägen sind mit Helmen versehen, auf deren Spitzen Höllenhunde hocken. Am eindrucksvollsten aber sind die Wasserspeier, die ein reichhaltiges Bestiarium abgeben: neben realistischen Tierköpfen sind furchterregende Phantasiewesen zu sehen, die oft auf skurrile Weise menschliche Züge annehmen: zum Beispiel in Form von Pranken, die sich zu Unterarmen und menschlichen Händen entwikelt haben. Ganz wenige Wasserspeier haben auch eine vollkommen menschliche Gestalt, was ihnen aber nichts von dem abschreckenden Eindruck nimmt. Der hier zu Stein gewordene heidnische Glaube, daß man die Dämonen und bösen Geister durch fratzenhafte Darstellungen und Masken fernhalten oder vertreiben kann, hat sich in der alemannischen Fasnacht ja bis heute erhalten.

          Der vielleicht zu recht später Stunde und nach einigen Gläschen guten, elsässischen Weines allein am Münster vorübergehende Passant kann aber unter Umständen auch noch ganz anderen fratzenhaften Gestalten am Münster begegnen. Zwar wird sich der echte Straßburger längst daran gewöhnt haben, daß immer ein Teil der Kathedrale, und oft ist dies das Langhaus und seine Bedachung, unter Gerüst steht. Immer wird irgendwo gearbeitet, müssen irgendwo die Wände und Skulpturen gereinigt oder behutsam erneuert werden. Der einsame Passant, der gegen Mitternacht, vielleicht aus einer Seitengasse kommend, unvermittelt vor dem Münster steht, würde deshalb diese Gerüste sicherlich nicht weiter beachten - wäre da nicht eben auch ein Geräusch gewesen. Neugierig schaut er hoch und entdeckt zu seinem Erstaunen eine menschliche Gestalt, die regungslos knapp unterhalb der Kante eines hohen, metallgitternen Bauzaunes hängt. Manch ein Spaziergänger wird das für eine Laune des Weines halten und kopfschüttelnd weitergehen. Derjenige aber, der seiner Wahrnehmung noch immer traut und näher herantritt, blickt in das angstverzerrte Gesicht eines jungen Burschen, der sich bei dem Versuch ertappt fühlt, über die Baugerüste auf die höheren Regionen der Münsterdächer zu klettern.

          Geradezu ein Volkssport ist sie nämlich unter den jungen Straßburgern, die Münsterkletterei. Befindet man sich einmal auf dem Dach auch nur des Seitenschiffes, so führen die vielen Laufgänge, Stege, Durchlässe und Wendeltreppen überall hin, sei es in das Innere des Westbaus oder sogar bis in die höchsten Höhen des 142 Meter hohen Turmhelms. Und wer möchte nicht gern etwas Eigenes beitragen können, wenn unter den Freunden das nächste Mal Münsterkletterergarn gesponnen wird: Geschichten vom Versuch, den von unten herauf gerichteten Kegeln der Suchscheinwerfer zu entkommen, von abenteuerlichen Verfolgungen durch Polizei oder Wachpersonal im oberen Turmbereich, vom reglosen Verstecken in leeren Regenfässern, von unerwarteten Pannen, einer übervollen Blase etwa, und von den schließlich gezahlten, nicht unbeträchtlichen Strafgeldern...

 

 

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