Pisa © Roland Salz 2000 - 2015
Roland Salz                                                                      
                                                                      Meditationen über Architektur

IX. Die Vierung

 

Mit der Vierung wenden wir uns jetzt dem Mittelteil des Querhauses zu, aber auch einem Bereich, der innerhalb der Längsachse der Kirche zwischen Langhaus und Chor vermittelt. Durch ihre starke Betonung in der Gesamtgestalt des Münsters erreicht die Vierung aber auch eine Eigenständigkeit, die sie sowohl vom Querhaus als auch vom Langhaus deutlich absetzt. Dies äußert sich vor allem in der Raumhöhe: die Vierung wird von einer achteckigen Kuppel überfangen, die auch im Außenbau alle umliegenden Bereiche deutlich überragt und selbst nur vom Westbau übertroffen wird - zu dessen Massigkeit sie ein interessantes und die Silhouette des Bauwerkes mitbestimmendes Gegengewicht darstellt.

          Es soll hier gleich vorweggenommen werden: das Querhaus, einschließlich der Vierung, stellt den Betrachter, der sich davon einen Gesamtvorstellung zu machen versucht, vor erhebliche Probleme. Und dies nicht nur aus dem schon erwähnten Grund, daß der erhöhte Boden der Vierung den Raum optisch zerteilt. Auch bei der Betrachtung der Pfeiler, der Wände und der Gewölbe will sich so leicht kein einheitlicher Eindruck einstellen. Es zeigt sich eine verwirrende Vielfalt von Gestaltungsmerkmalen, die zueinander in keine rechte Beziehung treten wollen. Oftmals haben wir es sogar mit scheinbar sinnlosen Bauelementen zu tun: da gibt es Wandkonsolen, auf denen nichts ruht; oder aber Kapitelle und Kämpfer auf Stützgliedern, oberhalb derer keine Bögen ansetzen, wie man das erwarten sollte, sondern das Stützglied einfach verlängert wird bis zu einer zweiten, höherliegenden Kämpferzone.

          Bei etwas eingehenderer Betrachtung wird sich selbst der Ungeübte des Eindruckes nicht erwehren können, daß er mit dem Querschiff ein "Durcheinander" verschiedenster Baustile vor sich hat. Und weil dies tatsächlich so ist, übt das Querhaus des Straßburger Münsters für immer neue Generationen von Kunstgeschichtlern einen nicht nachlassenden Reiz aus: läßt sich doch hier eine Baugeschichte erforschen, die an Komplexität nichts zu wünschen übrigläßt und die Möglichkeit für immer neue Theorien über den genauen Entstehungsverlauf dieses Bauteiles eröffnet: über eher hier oder dort angefangene Mauerpartien, über mittendrin gewechselte Pläne, über nachträgliche Umbauten, über die in den verschiedenen Epochen dominanten Einflüsse anderer Kathedralbauplätze oder gar die Persönlichkeiten der einzelnen, im Laufe der Zeit verantwortlichen Straßburger Münsterbaumeister.

          Wir wollen hier der Versuchung, den genauen Bauverlauf des Querhauses nachzeichnen zu wollen, nicht stattgeben. Denn zur Begründung unserer Hypothesen müßten wir dann dieses Kapitell aus Marmoutier (Maursmünster) und jene Säulenbasis aus Sélestat (Schlettstadt) anführen, und so interessant diese Tätigkeit des Vergleichens auch wäre, sie führt uns unweigerlich weg vom eigentlichen Ziel: der Betrachtung dessen, der meditativen Versenkung auf das, was wir im Straßburger Münster als Stein und als Form real vor uns sehen. Wir beschränken uns also bei unserer Beschreibung bewußt auf einige wenige historische Bestimmungen, die uns als relativ gesichert und für das Verständnis des Gesehenen unerläßlich erscheinen.

          Das Querhaus zeigt insgesamt eine baustilistische Entwicklung, die von der Ottonik der Wernher-Basilika (ab 1015), deren Grundriß beibehalten wurde, über die staufische Hochromanik der Frühphase des Neubaus (ab 1176) bis zum Eintreffen der Gotik in Straßburg reicht (ab etwa 1225). Die Kunstgeschichte hat diese Entwicklungsstufen in den Persönlichkeiten ihrer maßgeblichen Baumeister zu personifizieren versucht, ohne daß man diese namentlich kennt: so unterscheidet man, mangels anderer Qualifizierungen, den "Meister des flachgedeckten Querschiffes" - ursprünglich sollten die Flügel des Querhauses mit flachen Holzdecken versehen werden wie in der Wernher-Basilika-, einen "Meister der Andreaskapelle", oder aber einen "Ersten gotischen Baumeister", um nur einige zu nennen.

          Kommen wir zur Vierung zurück. Der über der Westkrypta erhöht liegende Bereich, der seit der Erbauung der Kirche in seiner Funktion dem Chor zugeordnet ist (indem er dessen eher kleine Fläche erweitert) und den man deshalb auch als "Vorchor" ansprechen kann, wird von vier schweren Eckpfeilern begrenzt, deren westliche freistehend sind. Die Freipfeiler ruhen auf gewaltigen Sockeln, die vom Langhaus aus etwa drei Meter emporwachsen und damit auch das Bodenniveau der Vierung noch um einen Meter überragen. Die östlichen Vierungspfeiler "wachsen" dagegen als "Dreiviertelpfeiler" aus den von den Querhausost- und den Chorwänden definierten Ecken heraus. Die zum Langhaus gewandten Flächen der Sockel der westlichen Vierungspfeiler sind so breit, daß sich hiervor, also beiderseits der zur Krypta hinunterführenden Treppen, heute gotische Flügelaltäre aufstellen lassen.

          Die Vierungspfeiler wurden vom "Meister der Andreaskapelle", dem auch die Neugestaltung des Chors zu verdanken ist, etwa um 1200 geschaffen. Sie haben im Kern einen kreuzförmigen Querschnitt. Vor die Außenseiten dieses Kreuzes und in die Nischen sind jedoch zusätzliche Halb- bzw Dreiviertelsäulen als Dienste gestellt, so daß sich auf jeder der entstandenen vier diagonalen Ansichtsseiten des Pfeilers eine Folge von fünf optischen Stützelementen ergibt, deren jedem - zumindest im Prinzip - ein eigener Gewölbebogen zugeordnet werden kann.

          Dieser vom Konzept her systematische Aufbau der Vierungspfeiler erweist sich als fähig, dessen verwirrend vielfältige Stützfunktionen optisch zu strukturieren. Entsprechend seinen vier Diagonalseiten muß jeder der beiden westlichen Vierungspfeiler vermitteln zwischen

  • Langhaus-Vierungsbogen (Triumphbogen) (2; Bedeutung der Ziffern s.u.) und andersgeartetem Querhaus-Vierungsbogen (3),
  • Triumphbogen, Langhaus-Gurtbogen (3) und Scheidbogen (zwischen Langhausmittel- und -seitenschiff) (1),
  • Scheidbogen und Seitenschiff-Gurtbogen (hier Arkadenbogen zwischen Seitenschiff und Querhaus) (1),
  • Seitenschiff-Querhaus-Arkadenbogen und Querhaus-Vierungsbogen.

Den verschiedenen Bogentypen entsprechen an den Vierungspfeilern allein drei verschiedene Kapitell- und Kämpferniveaus, die in Klammern hinter den Bögen angegeben sind.

          Für das Auge verwirrend ist aber der vielfältige Profilwechsel, der sich über die Kapitell- und Kämpferbegrenzungen hinweg an den optischen Stützelementen des Vierungspfeilers ergibt. Nur bis zur ersten Kämpferlage (1) bleibt es bei dem gleichmäßigen Wechsel von Rechteck- und Rundprofil. In den Bögen finden wir dagegen Profile aus reinen Rechteckabtreppungen (Vierungsbögen und Seitenschiff-Gurtbögen), Runddienste (Langhaus-Gurtbogen), einfache Birnstäbe (Querhaus-Gewölberippen) und Mehrfachbirnstäbe (Scheidbögen). Da die Vierungspfeiler also zwischen diesen verschiedenen Profilen vermitteln müssen, kommt es über die Kämpferlagen hinweg zu allen möglichen Wechseln: rund zu rechteckig, rechteckig zu rund, rund zu Birnstab, etc. Aber auch damit nicht genug: oftmals setzt sich ein Dienst oberhalb einer Kämpferbegrenzung mit einem anderen, meist kleineren Durchmesser fort und dieser steht nicht unbedingt mittig auf dem unteren Dienst. Schließlich gibt es eine ganze Reihe von Fällen, in denen ein einziges unteres optisches Stützelemente oberhalb einer Kämpferlage zwei schmalere Stützelemente tragen muß, oder aber, wo oberhalb der Kämpferlage statt dessen gar keine zu stützende Komponente vorhanden ist, so daß das optische Stützelement einfach im Gewölbe verschwindet. Und an zwei Stellen bleibt auf den stark vorkragenden Kämpferplatten sogar soviel Platz, daß man dort kurzerhand Skulpturen aufstellte: ins südliche Seitenschiff blickt ein Munstergücker, denn er schaut angestrengt nach oben in das Gewölbe; ins nördliche Seitenschiff dagegen wendet sich ein mit dem Löwen kämpfender Samson.

          Zwischen den Vierungspfeilern spannen sich zum Langhaus und zum Chor hin zwei identische, breite Spitzbögen (2) auf. Der Triumphbogen (Langhaus-Vierungsbogen) setzt dabei aber bedeutend niedriger an als die Gurtbögen des Langhauses (3). Dadurch entsteht oberhalb des Triumphbogens, zum Langhaus hin gerichtet, eine Wandfläche, die durch zwei übereinanderliegende Spitzbögen definiert ist und damit eine Form hat, die einer riesigen Bischofsmitra nahekommt. Diese Fläche ist seit dem 19. Jahrhundert mit einer Szene des Jüngsten Gerichts bemalt; davor war diese Wand, wie alte Stiche zeigen, auf ihrer gesamten Fläche mit einem Textauszug aus der apokalyptischen "Offenbarung des Johannes" beschriftet, in deutscher Sprache.

          Vom Langhaus aus betrachtet ergibt sich beim Blick zum Chor eine eindrucksvolle Staffelung von übereinanderliegenden Spitzbögen: perspektivisch "unterhalb" der gleichmäßigen Abfolge der Langhaus-Gurtbögen erscheint der Triumphbogen; darunter der gleichhohe Chor-Vierungsbogen und im Chor selbst, quasi als letztes Echo dieser Abfolge, der stark betonte, doppelte Spitzbogen über dem Apsisfenster.

          Die den Querhausflügeln zugewandten Vierungsbögen haben eine deutlich andere Gestalt. Zwar sind auch sie in ihrer Grundanlage breite Spitzbögen; diese setzten aber mehr als vier Meter höher an als die nach Osten und Westen gerichteten. Die Idee, diese Bögen zu erhöhen, muß nachträglich entstanden sein. Denn auf der ursprünglichen Höhe (2) waren an den Vierungspfeilern hier bereits Kapitelle und Kämpfer angelegt. Man hat aber dann über ihnen die Vierungspfeiler einfach verlängert bis zu einer erneuten Kämpferlage (3).

          Zusätzlich stellte man in die seitlichen Vierungsbögen schwere Rundpfeiler ein, die direkt bis zur dritten Kämpferlage hochführen. Dekoriert sind sie nur mit einem Schaftring auf der Höhe des Abschlusses des Chor-Untergeschosses, der sich übrigens in dieser Höhe auch an den Stützgliedern der östlichen Vierungspfeiler zeigt. Die Rundpfeiler zerlegen die beiden seitlichen Vierungsbögen in je zwei schmalere Bögen, was der bereits erwähnten zweischiffigen Anlage der Querhausflügel entsprechen sollte. Die Scheitel der schmaleren Spitzbögen liegen nun - und das wird der Grund für die nachträgliche Anhebung der großen Bögen um vier Meter gewesen sein - auf der Höhe derjenigen der Ost- und West-Vierungsbögen; der Bereich darüber, bis zu den großen Nord- und Süd-Vierungsbögen, ist vermauert.

          Mit dem offenkundigen Planwechsel, den wir an den höher gezogenen Vierungspfeilern zum Querhaus hin ablesen können, war die Idee verbunden, daß ursprünglich geplante Kreuzrippengewölbe über der Vierung durch eine Kuppel zu ersetzen. Das durch die Vierung gebildete Quadrat wird deshalb oberhalb der Spitzbögen durch vier - jetzt wieder in einheitlicher Höhe liegende - Trompen in eine Achteckform überführt, über der sich ein rippenverstärktes und auf jeder der acht Seiten von einem kleinen Fenster durchbrochenes Klostergewölbe erhebt.

          Das durch diese kleinen Fenster in das Dunkel der Kuppel und hinunter in den Kirchenraum dringende Licht ist von einer unglaublichen Plastizität. Die durch das Fenster dringenden Strahlen sind oft in ihrem gesamten Verlauf durch den Kirchenraum sichtbar und können einzelne Partien des Innenraums schlaglichtartig beleuchten: so zum Beispiel, zu einer bestimmten Stunde an einem bestimmten Tag des Jahres, die Kernszene der großen Ölberg-Skulptur im nördlichen Querhausflügel.

 

 

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