XXVIII. Steinerne Harfen: Der Aufbau der Westfassade
Strebepfeiler und Geschoßgrenzen zerlegen die Fassade des Straßburger Münsters, wie wir gesehen haben, in neun etwa gleichgroße Felder. Obwohl diese Unterteilung der Eingangsseite der Kirche scheinbar in keinerlei Beziehung zu dem dahinterliegenden Langhaus steht, ist dessen Struktur, bei genauerem Hinsehen, doch an der Fassade abzulesen. Die drei Portale, die die Felder des ersten Geschosses ausfüllen, entsprechen den drei Schiffen der Kirche. Die einheitliche Höhe des Portalgeschosses entspricht zwar nicht derjenigen der Seitenschiffe des Langhauses, wohl aber der etwas größeren Höhe der Seitenjoche des Narthex. Das mittlere Feld des zweiten Geschosses wird von einer großen Fensterrose ausgefüllt, die dem Hochschiff des Langhauses entspricht. Auch hier reicht die äußere Geschoßgrenze deutlich weiter als das Gewölbe des Langhauses hinauf, korrespondiert aber mit der ebenfalls größeren Höhe des mittleren Turmjoches. Tatsächlich liegt der Mittelpunkt der Rose genau auf der Höhe der Scheitelpunkte des Langhausmittelschiffes.
Der engen Verbindung von unterem Mittelschiff und Hochschiff des Langhauses entspricht auf der Fassade ein Ineinandergreifen der beiden Felder, die das Mittelportal einerseits und die Fensterrose andererseits enthalten. Die Geschoßgrenze zwischen beiden ist als einzige der gesamten Fassade nicht durch eine steinerne Balustrade betont. Im Gegenteil: das Portal ist mit einem doppelten Wimperg bekrönt, dessen obere Spitze nicht nur bis an den unteren Rand der Rose heranreicht, sondern deren schlanke Fialen bis zum Mittelpunkt der Rose - also bis auf die Höhe der Scheitelpunkte des Langhausmittelschiffes! - hinaufragen.
An den übrigen fünf Fassadenfeldern läßt sich deutlich ablesen, daß sie nicht in Beziehung zu den Innenräumen der Kirchen stehen, denn sie sind, bis auf das mittlere Feld des obersten Geschosses, durchbrochen, man kann durch sie hindurchsehen. Die beiden großen Fensteröffnungen des Glockenhauses sind optisch mit Schallblenden verschlossen. Aber auch hier kann der Betrachter schwerlich auf den Gedanken kommen, dieses Feld noch mit einem Innenraum der Kirche in Relation setzen zu wollen, denn dieses Fassadenfeld ist von demjenigen der Rose deutlich, durch eine zwischengeschobene Apostelgalerie abgetrennt.
Auffallend ist, daß die horizontalen Geschoßgrenzen mit zunehmender Höhe immer dominanter werden. Diejenige oberhalb des Portalgeschosses ist nicht nur, wie wir gesehen haben, im mittleren Fassadenteil optisch zurückgedrängt. Hier wird sie nur durch die quadratische Rahmung der Rose markiert, nicht aber, wie unterhalb der Fenster der Seitenfelder des ersten Obergeschosses, von durchbrochenen Balustraden. Es kommt hinzu, daß die Strebepfeiler an dieser Geschoßgrenze auf einer anderen Höhe horizontal strukturiert sind als die dazwischenliegenden Fassadenwände. Die "Geschoßgrenze" der Strebepfeiler, markiert durch ein Wasserschlaggesims, liegt um etwas mehr als zwei Meter tiefer. Die Geschoßgrenze des Gesamtgebäudes "verschwimmt" auf diese Weise.
Oberhalb der die Rose bekrönenden Apostelgalerie und der Seitenfenster des ersten Obergeschosses markiert ein stark vorkragendes und um die Strebepfeiler herum verkröpftes Gurtgesims die Stockwerksgrenze. Die ebenfalls auf der gesamten Fassadenlänge verkröpfte Balustrade, mit der dieses Gesims betont ist, wird allerdings in allen drei vertikalen Fassadenstreifen von Wimpergarkaden durchbrochen, die aus dem unterliegenden Stockwerk emporwachsen und deren Ursprung wir gleich noch näher untersuchen werden. Trotz ihres stark horizontalen Akzentes verbleibt dieser Geschoßgrenze also noch ein vertikales, aufstrebendes Element. Dieses ist gar nicht mehr vorhanden am Kranzgesims, das das oberste der drei Fassadengeschosse abschließt. Hier finden wir wieder auf der gesamten Länge eine verkröpfte und maßwerkdurchbrochene Balustrade, die aber von keinem Wimperg mehr durchschnitte wird und daher einen glatten, horizontalen Abschluß des Gebäudemassivs erreicht.
Die Fassade des Straßburger Münsters beeindruckt nicht nur durch ihre Höhe und Breite, sondern vor allem durch die überaus reiche skulpturale Ausstattung. Dies gilt insbesondere für die Portale, deren tief eingeschnittene Gewände nicht nur von ganzen Reihen überlebensgroßer und einzigartig aussagestarker Skulpturen gesäumt sind, sondern die in ihren zahlreichen Archivolten und den in mehrere Register unterteilten Tympana eine solche Fülle von Einzelfiguren und Szenen aufweisen, daß der Betrachter gar nicht weiß, wo er mit dem Anschauen anfangen soll, und es vielleicht sogar aus diesem Grund gleich bleiben läßt.
Manch einer wird sich deshalb zuerst einmal den rein architektonischen Elementen der Fassadengestaltung des Portalgeschosses zuwenden wollen, bei denen es noch nicht notwendig wird, ikonographische Deutungen zu bemühen, sich also einiger gedanklicher Arbeit auszusetzen.
Er wird also vielleicht entdecken, daß jedem der großen Strebepfeiler selbst wieder vier kleinere Strebepfeiler vorgelegt sind, solche zweiten Grades sozusagen. Er wird der krabbenbesetzten Kanten dieser letzteren gewahr werden, dann der sie bekrönenden Fialen, deren überschlanke Tabernakelsäulchen allein schon mehrere Meter hoch sind und die zusammen mit den spitzen, von Kreuzblumen bekrönten Riesen die Mauermassen der großen Strebepfeiler auf allen Seiten umgeben wie Reihen schlanker, junger Bäumchen, die um die Vorsprüngen einer Felswand herum gepflanzt sind, so daß sie deren nackte Massigkeit beinahe vollständig verdecken.
Es ist die Plastizität der Fassade, die den Betrachter am meisten fesselt. Da ist nicht nur ihre starke Profilierung durch die weit vorstehenden Strebepfeiler oder die tiefen Portalgewände. Zusätzlich ist den eigentlichen Wandflächen überall vertikales Stabwerk vorgebaut, wie Gitter vor einer Hauswand, an denen Pflanzen hochranken sollen. Die Schatten der schlanken, selbst wieder profilierten Sandsteinstäbe zeichnen sich im Licht der Nachmittagssonne auf den dahinterliegenden Sandsteinquadern der eigentlichen Wand ab, und indem der Betrachter seinen Standpunkt ändert, verschieben sich Stabwerk und Schatten gegeneinander und verleihen der Fassade Bewegung und Leben.
Die Wandpartien zwischen Strebepfeilern und Portalen sind auf diese Weise ganz von Maßwerkarkaden übersponnen, deren schlanke, sich über die gesamte Geschoßhöhe erstreckende Lanzetten unterhalb der Balustraden (bzw. des Rahmens der großen Fensterrose im Mittelteil), an denen sie befestigt sind, spitzbogig zusammenlaufen, jeweils zu dritt, begleitet von Drei-, Vier- und Sechspaßmaßwerk im Bogenfeld.
Eine solche Fassadengestaltung ist in der gotischen Kirchenbaukunst einzigartig. Man hat sie mit "Harfenmaßwerk" bezeichnet, angesichts der beinahe saitendünnen Bespannung mit Steinstäben. Im zweiten Geschoß setzt sie sich nur noch vor den Fensteröffnungen in den Seitenfeldern und nur noch in recht grober Weise fort; hierher stammen die Wimperge, die, wie wir gesehen haben, die darüber liegende Balustrade durchstoßen. Im obersten Geschoß verschwindet das Harfenmaßwerk gänzlich.
Auf grandiose, etwas abgewandelte Weise tritt die Plastifizierung der Fassade, die im Portalgeschoß durch das in einigem Abstand der Wand vorgestellte Harfenmaßwerk erreicht wird, im mittleren Feld des zweiten Geschosses noch einmal in Erscheinung, und zwar an der großen Fensterrose. Diese Rosette zählt mit ihren 14 Metern Durchmesser nicht nur zu den größten, sondern auch schönsten gotischen Rundfenstern überhaupt: durch ihre in reinem Rayonnantstil gestaltete Maßwerkstruktur einerseits und ihre wunderbar dezente, in konzentrischen Kreisen angeordnete Farbgebung andererseits. Die Rose ist außen von einem quadratischen Rahmen eingefaßt, der die gesamte Breite des Fassadenfeldes zwischen den Strebepfeilern ausfüllt. Er kragt allseits etwas vor und übernimmt so die Funktion, die die vorkragenden Gesimse mit ihren Balustraden für das Harfenmaßwerk erfüllen: er dient als Halterung für Maßwerk, das der eigentlichen Wand vorgebaut ist, in der das Rosenfenster liegt.
Ein Kreis, der in ein Quadrat eingeschrieben ist, läßt an dessen Ecken vier Mauerzwickel übrig. Diese nach Möglichkeit ebensowenig stehenzulassen wie jedwede Mauerpartie im Portalgeschoß, wird die Anfangsmotivation für den Baumeister gewesen sein, den berühmten Erwin von Steinbach, der der Münsterbauhütte von etwa 1284 bis 1318 vorstand. Erwin schrieb dem Quadrat des vorkragenden Rahmens also ein Maßwerk ein, das in der Mitte einen kreisförmigen Ausschnitt frei läßt, genau von der Größe der dahinter in der Wand liegenden Rose. Entsprechend der Grundform des Radfensters sind die vorgebauten Maßwerkformen nun nicht mehr geradlinig, vertikal emporstrebend wie im Portalgeschoß, sondern rund. Jeweils drei kleinere Kreise von unterschiedlichen Durchmessern sind den Zwickeln vorgelegt, ausgefüllt selbst wieder mit Vierpaß- und Fünfblattmaßwerk. Die kleinen Kreise halten, zusammen mit dem Rahmen, einen riesigen Maßwerkkreis, der den gesamten Durchmesser des Quadrates ausfüllt und etwas größer ist als die dahinter liegende Fensterrose selbst. Vom Maßwerkkreis aus ragen Nasen nach innen, die mit Kreuzblumen abschließen und einen ornamentalen und plastischen Übergang zu den in Spitzbögen endenden sechszehn doppelten "Blütenblättern" der Fensterrose herstellen. Vorgebautes, plastisches und in der Fensterwand liegendes, planes Maßwerk gehen auf so raffinierte Weise ineinander über, daß der Betrachter die Nahtstelle erst dann bemerkt, wenn er seinen Standpunkt verändert und damit das vorgebaute Maßwerk "in Bewegung setzt".
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