Pisa © Roland Salz 2000 - 2015
Roland Salz                                                                      
                                            Meditationen über Architektur und Landschaft

I. Prolog: La Petite France

 

Die Platanen sind eben erst grün geworden und geben jenen seltsamen Halbschatten, der sich nur wenige Tag lang beobachten läßt, in der kurzen Zeitspanne zwischen dem Aufbrechen der Knospen und der Entwicklung der Blätter zur ihrer vollen Größe. Gerade rechtzeitig noch haben sich die großen Bäume auf der Place Benjamin Zix also entschlossen, ihre Kronen zu entfalten, um den Besucher des kleinen Biergartens unter ihnen zumindest halbwegs vor einer fast frühsommerlich heißen Sonne zu schützen. Schon jetzt, am frühen Vormittag, brennt sie unerbittlich, steht hoch am Himmel, und dabei ist die Luft schwül.

          Nur langsam kommt das Leben in Gang in der Petite France an einem solchen Samstag vormittag. Die Touristengruppen kommen erst zum Mittagessen, nachdem sie das Münster besichtigt haben, und so läßt sich der Wirt Zeit mit dem Aufstellen der Tische. Er weiß, daß der Tag lang wird, und so vergeudet er nicht schon jetzt seine Kräfte. Bedächtig plaziert er jedes der runden Eisentischchen und jeden Stuhl auf der kleinen Fläche des Platzes unter den Bäumen. Einerseits sollen die Tische übersichtlichen und in Reihen stehen, mit ausreichendem Durchgang. Andererseits gibt es keinen Raum zu verschenken, und jede Unebenheit der Pflastersteine, jede hervorbrechende, diagonale verlaufende Baumwurzel muß berücksichtigt werden.

          Der frühe Besucher sitzt noch völlig allein, an einem Tisch nahe des Geländers zum Kanal. Aber der Wirt hat ihm schon seinen café crème gebracht, und so muß er nicht warten, sondern kann den Morgen genießen, kann in Ruhe zusehen, wie sich das alltägliche Leben in dem alten Gerberviertel Straßburgs entfaltet, scheinbar langsam, aber doch zielstrebig und kraftvoll, wie die Blattknospen der Platanen.

          Die Place Benjamin Zix bildet den Vorplatz für die Kirche des Viertels und ist somit unbestritten dessen Mittelpunkt. Vier Gassen treffen hier, unmittelbar vor dem Kai, zusammen: zwei kommen, links und rechts an der Kirche vorbei, von Nordosten frontal auf den Kanal zu, die beiden anderen verlaufen parallel zu dessen leichter Krümmung. Und wenn dieser Vorplatz auch von eher kleinem Format ist, wie übrigens auch die Kirche selbst, so verleiht ihm der unmittelbar davor entlangziehende Wasserarm, auf dem heute zwar keine Lastkähne mehr fahren, wohl aber große Touristenbarkassen vorbeikommen, doch eine Lebhaftigkeit, die so manch anderer der kleinen Kirchvorplätze des Landes vermissen läßt.

         Die alten Häuser des von mehreren, parallelen Kanälen durchzogenen Viertels sind hoch und schmal. Über den steinernen Sockelgeschossen, die oft direkt am Wasser stehen, erheben sich zwei bis drei Fachwerketagen, überfangen von den steilen, traufseitig zum Kanal stehenden Dächer. Ihre Schrägen sind mit zahllosen kleinen Gauben besetzt, angeordnet meist in mehreren Reihen übereinander. Und natürlich gleicht kein Haus dem anderen: alle unterscheiden sich von ihren Nachbarn, an die sie meist unmittelbar anstoßen, in Breite und Firsthöhe, aber auch in den Geschoßhöhen, der Dachneigung, der Fensterzahl und -art, der Anordnung der Gauben und nicht zuletzt in der Farbe. An ein Haus auf der anderen Seite des Kanals, dessen Fachwerkfelder pfefferminzgrün bemalt sind, stößt ein zweites mit rostbraunem Anstrich, das selbst wiederum einen Nachbarn mit lachsfarbenem Steinsockel zur anderen Seite hin hat. Und das vierte Haus in der Reihe, winzig klein, nicht mehr als ein Lückenfüller, ist himmelblau gestrichen, über dem ebenfalls lachsroten Sockel.

         Aber nicht nur jedes Haus unterscheidet sich vom anderen, auch jeder Straßenzug. Die Fachwerkhäuser auf der Ostseite des Canal de Navigation etwa, an der Schleuse knapp unterhalb des Platzes, auf dem der Besucher seinen Morgenkaffee trinkt, zeichnen sich durch fortlaufende Gaubenbänder in den Dächern aus, sind oft ganzflächig verputzt und haben hölzerne Fensterläden. Weiter nördlich dagegen, oberhalb des Platzes, sind die Häuser niedriger, haben nur ein bis zwei Geschosse zwischen Sockelgeschoß und Dach. Sie stehen oft einzeln, sind verwinkelter, offenbar auch älter und vor allem: einheitlich weiß gestrichen. Rue des Bains aux Plantes, "Pflanzbadgasse", heißt dieses Sträßchen, das jenseits der am Kanal entlangführenden Häuserreihe dem Verlauf des schiffbaren Wasserarmes folgt, in einem großen, nach Westen gehenden Bogen.

          Die Häusern, in denen früher Tierhäute bearbeitet wurden, beherbergen heute edle Restaurants, Allerwelts-Souvenirläden oder beides zugleich. Die Nachfahren der Gerber haben sich auf die Zubereitung teurer, elsäßischer Küche umgestellt, oder aber, bei geringerem kochkünstlerischem Talent, in ihren kleinen Läden ein Sortiment derjenigen Dinge zusammengetragen, die der Tagesbesucher aus Deutschland, Großbritannien oder Spanien aus dem Elsaß mitzunehmen gewillt ist - denn wenn er die Stadt mit dem kulinarischen Weltruhm schon nicht mit gefülltem Magen verläßt, so sollen doch wenigstens seine Manteltaschen nicht leer bleiben.

          Die Häuserreihe zwischen Pflanzbadgasse und Kanal grenzt nicht unmittelbar an diesen an, wie weiter flußabwärts, wo die Kellermauern direkt aus dem Wasser hochsteigen. Statt dessen verbleibt hier ein schmaler Streifen Raum zwischen Behausungen und Fluß, der für einen kleinen, pflanzenüberwucherten Garten, eine lauschige, überdachte Terrasse oder einen schuppenartigen Anbau genutzt wird, in dem früher die Häute getrocknet wurden.

          Auch das markante Haus auf dem spitz zulaufenden Grundstück, unmittelbar an den Kirchvorplatz angrenzend, hatte einst einen solchen Garten zum Kanal, wie man noch heute an seiner Architektur ablesen kann. Wenn das Grundstück durch seine Dreiecksform und Kleinheit auch alles andere als komfortabel war, so wurde dieser Makel doch durch seine exponierte, geschäftsfördernde Lage am Eingang zur Pflanzbadgasse ausgeglichen - und offensichtlich auch durch die unternehmerische Tüchtigkeit seiner Generationen von Besitzern. Denn immer wieder wurde das Haus vergrößert und erweitert, im Laufe der Jahrhunderte, nach oben, zur Straße hin und schließlich zum Kanal. Führte die Erdgeschoßmauer aus Sandsteinquadern schon genau vor der Grundstücksgrenze zur Straße hin entlang, so baute man das Obergeschoß erkerartig so weit vor, daß es mit diagonal vorkragenden Stützbalken getragen werden mußte. Kaum Stehhöhe verblieb den Passanten der Pflanzbadgasse unter diesem Auswuchs. Dann erwies sich die Grundanlage des Hauses, mit nur einem Fachwerkgeschoß unter dem Dach, als zu bescheiden: man behalf sich mit einer fast hausbreiten Schleppgaube, deren Fenster mit der Straßenfront fluchteten und die das Haus nunmehr dreistöckig erscheinen ließ. Das vorher bereits dreistöckige System kleinen Schleppgauben in dem hohen Satteldach war dadurch allerdings durcheinander geraten, und um dies wieder etwas zurechtzurücken, setzte man auf die neue, lange Schleppgaube wiederum kleinere auf, die jetzt aussehen wie die Jungen, die auf dem breiten Rücken des Muttertiers hocken.

          Die Möglichkeiten zur Erweiterung des Haupthauses waren mit diesen baulichen Maßnahmen erschöpft. Um den jedoch immer noch weiter anwachsenden Platzbedarf zu decken, mußte zu einer Lösung gegriffen werden, die zu Lasten des kleinen, schmalen Gärtchens zum Kanal hin ging: er mußte einem Anbau weichen, der die Außenwand des Gebäudes bis zum Rand des Wassers vorschob. Es entstand also ein hohes Geschoß unmittelbar über dem Wasserspiegel, das im Innern irgendwie in das niedrige, straßenseitige Erdgeschoß übergehen mußte. Darüber errichtete man, diesmal von vornherein, zwei Fachwerkgeschosse, deren oberes allerdings laubenartig geöffnet blieb. Die Stützbalken und Träger dieses Anbaus wirken noch so geradlinig im Vergleich zum Kernbau, daß man annehmen muß, er ist erst im letzten Jahrhundert entstanden.

          Maison de Tanneurs (Gerwerstub), steht auf der schmalen, zur Place Benjamin Zix hin gerichteten Wand, erbaut 1572. Tatsächlich hat sein heutiger Besitzer das Haus nicht nur zu einem der führenden Feinschmeckerrestaurants des Landes gemacht - La Maison de la Choucroute (Sauerkraut-Haus) -, sondern das so vielseitig wie kunstvoll erweiterte Gebäude zählt heute zu den berühmtesten und am meisten fotografierten der Stadt. Der Gast des Restaurants, das sich mit der Panoramafront des Anbaus zum Kanal hin öffnet, kann, je nach Jahreszeit und persönlicher Vorliebe, zwischen Räumen mit ganz unterschiedlichem Ambiente wählen: dem lauschigen, auf dieser Seite hohen, steinernen Sockelgeschoß, unterhalb des Straßenniveaus gelegen, mit seinen einzelnen Rechteckfenstern, von denen sich bequem eine Angel auswerfen ließe; oder dem ersten Obergeschoß, mit Blick aus einer flachen, aber durchgehenden, nur von den Stützbalken unterbrochenen Fensterfront und über eine ebenso langen Reihe kräftig gedeihender Geranien hinweg; oder aber, bei entsprechend sommerlicher Witterung, dem obersten Stockwerk, dessen gesamte Fläche als ein vom Dach des Anbaus überfangener Freisitz angelegt ist, umsäumt ebenfalls von den sattroten Blüten über saftiggrünen Blättern.

          Auf der gegenüberliegenden Seite der Rue des Bains aux Plantes stehen die Häuser giebelseitig zur Straße, zeigen ein bis zwei vorkragende Fachwerkgeschosse und zwei weitere im Giebel. Auch vor den kleinen Fensterchen in ihren oberen Stockwerken hängen Kästen mit Blumen in allen Farben. Mehrmals am Tag werden sie mit feinen, langstieligen Gießkannen gewässert, ja geradezu liebevoll gebadet, von gebeugten, grauhaarigen Frauen, die in den kleinen Fensterchen erscheinen und dabei durch ihre dicken Brillengläser freundlich und wohlmeinend auf die Touristen herunterschauen, die die  Pflanzbadgasse unten erschöpft und durstig durchstreifen.

 

Überall spiegeln sich im Wasser der Kanäle, die die Petite France träge durchziehen, die Fassaden der alten Fachwerkhäuser. Pastelltöne liegen ruhig neben- oder tanzen wild durcheinander, je nach Wasserführung, Windstärke und Schiffsverkehr. Zartes Beige vermengt sich mit dunklem Ocker, blasses Mauve geht über in kräftiges Inkarnat. An einer Stelle fällt mir, nachdem sich der Wasserspiegel, durch die Landung einer Ente vorübergehend in Aufruhr geraten, wieder beruhigt hat, über einem der Dächer etwas auf, das mich undeutlich an meine Herfahrt heute früh erinnert. Neugierig blicke ich auf und sehe das Dach des Hauses jetzt richtig herum. Auf seinem First ist eine eiserne Plattform für ein Storchennest montiert, aber sie ist leer. Jetzt erinnere ich mich wieder. Ich sehe es vor mir, das Storchennest in dem kleinen Ort Bodersweier, wenige Kilometer von Straßburg entfernt, auf der deutschen Seite des Rheins, outre-Rhin, wie man hier sagt. Es war bewohnt, der junge Storch schon auf den Beinen neben den ausgewachsenen elterlichen Tieren.

          Als ich mich auf meinem Spaziergang durch das Viertel noch weiter von dem Platz vor der kleinen Kirche entfernt habe, bemerke ich plötzlich noch etwas Merkwürdiges in den Spiegelbildern des Kanals. Da ragt wieder etwas über die winkeligen Dächer der bunten Fachwerkhäuser hinaus, aber diesmal scheint es gar nicht zu ihnen zu gehören. Wieder schaue ich hoch und entdecke zu meiner Überraschung, klein und ganz in der Ferne, in den Farben des roten Sandsteins und als eine vom Tageslicht des Himmels durchbrochene Struktur, den Turm des Straßburger Münsters.

 

 

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