Pisa © Roland Salz 2000 - 2015
Roland Salz                                                                      
                                                                      Meditationen über Architektur

III. Vom Pfahlbaudorf zu den Straßburger Eiden

 

Die Ursprünge Straßburgs reichen bis in die Jungsteinzeit zurück, denn so alt sind die Zeugnisse menschlicher Besiedlung, die bei Grabungen im Bereich der heutigen Stadt gefunden wurden. Wie so viele frühe Ansiedlungen hat auch Straßburg seine Entstehung einem besonderen topographischen Umstand zu verdanken, der gerade diese Stelle entscheidend begünstigte. Die Ill, ein aus den Vogesen kommendes Flüßchen, das etwas weiter nördlich in den Rhein mündet, teilt sich hier, an einem Punkt, die bereits in den flachen Rheinauen liegt, in zwei Arme, die bald darauf wieder zusammenfließen und so eine natürliche Insel bilden. Die ersten Bewohner dieser Stelle konnten sich vom Fischfang ernähren und waren durch die Lage im Fluß gleichzeitig vor Feinden geschützt. Gegen die regelmäßigen Hochwasser des vielverzweigten Rheines halfen sie sich, indem sie ihre Häuser auf Pfählen errichteten. Auch die Kelten, die den frühen Ureinwohner seit der Bronzezeit (ab etwa 1500 v.Chr.) nachfolgten, erkannten die strategische Lage der Insel, und so setzte sich deren Besiedlung wahrscheinlich lückenlos fort. Während der Eisenzeit, also ab etwa 800 v.Chr., begann man mit der Trockenlegung der umliegenden Sümpfe und konnte so das Problem der zyklischen Rheinhochwasser endlich dauerhaft lösen. Von der Pfahlbauweise ging man jetzt zum Bau von Holzhäusern auf einem ganzjährig trockenem Boden über. Die Insel in der Ill wurde nun, nach keltischer Tradition, zusätzlich mit Erdwällen und Palisaden befestigt, und bot schon im 4. Jahrhundert v.Chr. etwa 1500 Menschen Platz.

          Wahrscheinlich schon seit dieser Zeit ist der Platz, an der heute das Münster steht, der zentrale Kultplatz der Insel: unmittelbar neben dem Südturm der heutigen Kirche befand sich ein den keltischen Naturgöttern gewidmetes Heiligtum, in Form einer Quelle, umgeben von dem Hain der drei Buchen. An vielen historischen Städten kann man sehen, daß es eine alte Sitte der Eroberer war, ihre Heiligtümer genau dort zu errichten, wo diejenigen ihrer Vorgänger standen, auch wenn sie meist ganz anderer Glaubensrichtung angehörten. Aber nicht genug damit, daß nach dem Einzug des Christentums die Kathedrale an diesem altehrwürdigen Ort innerhalb der Inselgrenzen errichtet wurde. Ein Brunnen, der sich, wie alte Stiche beweisen, im Mittelalter im Innern der Kirche befand, der sog. Kindelsbrunnen, ist wahrscheinlich das Ergebnis einer Assimilierung und Transformation dieser heiligen Quelle selbst: die Christen beziehen jetzt aus ihm das Wasser für die heilige Taufe!

          Doch noch einmal zurück in die Epoche vor der Zeitenwende. Im Jahre 58 v.Chr. eroberten die Römer das Elsaß. Die Insel in der Ill bot sich ihnen hervorragend zur Errichtung eines Kastells an, was im Jahre 12 v.Chr. zur Ausführung gebracht wurde. Geschickt nutzten die Erbauer den fast rechtwinkligen Zusammenlauf der beiden die Insel umschließenden Flußarme, um sie zu zwei Seiten ihrer genormten, rechteckigen Befestigung zu machen. Die anderen beiden Seiten des rechteckigen Grundrisses sind noch heute im Stadtplan der Altstadt zu erkennen: in der Rue des Étudiants sowie dem langgestreckten Place Broglie im Nordwesten, und in der Rue des Grandes Arcades sowie der Rue de Vieux-Marché-aux-Poissons im Südwesten. Die Rue du Dôme und die Rue des Hallebardes bildeten die beiden Achsen des römischen Castrums, traditionell Via Praetoria (Cardo) und Via Principalis (Decumanus) genannt. Bis heute spiegeln die Straßenzüge im Innern des beschriebenen Rechtecks weitgehend den Verlauf aus der Römerzeit wieder.

          An der Stelle des alten gallischen Heiligtums bauten die Römer den Forum- und Tempelkomplex. Jetzt wurde an diesem Ort dem Kriegsgott Mars geopfert. Eine Bronzestatue, die man nach Chlodwigs Schleifung des Marstempels übrigbehalten hatte, war zum Andenken während des gesamten Mittelalters im Münster aufgestellt: der Kriegs- oder Kreutzmann, wie man sie nannte.

          Das Kastell Argentorate, eine aus dem keltischen übernommene Bezeichnung mit der Bedeutung "Festung im silbernen Fluß", konnte 6000 Soldaten beherbergen. Außerhalb seiner Mauern bot die Insel aber noch reichlich Platz für zivile Ansiedlungen. Hafenanlagen wurden gebaut und Thermen errichtet. Durch die beiden Heerstraßen, die sich hier kreuzten, kam dem Ort schon damals eine überregionale Bedeutung auch als Handelsplatz zu. Aber trotz ihrer lokalen, verteidigungstechnisch günstigen Plazierung lag die Siedlung auf der Ill-Insel schon damals an der umkämpften Grenzlinie zweier Welten, der römisch-gallischen im Westen und der germanischen im Osten. Immer wieder überfielen und verwüsteten oder besetzten germanische Stämme die römischen Anlagen, zuerst aus dem Volk der Markomannen, später der Alemannen. Immer wieder mußte das Kastell neu aufgebaut und befestigt werden. Im Jahre 406, auf dem Höhepunkt der Wirren der germanischen Völkerwanderung, mußten die Römer den Platz endgültig aufgeben. Aber auch die Germanen als die neuen Siedler fanden keinen Frieden hier: 451 zog Hunnenfürst Attila mit seinen Truppen über die Stadt hinweg und ließ keinen Stein auf dem anderen.

          Erst 496 kam die Insel in der Ill zur Ruhe, als sie nach dem Sieg bei Tolbiac über die Alemannen unter die Herrschaft der merowingischen Franken fiel, die unter König Chlodwig im Begriff waren, ein westeuropäisches Großreich aufzubauen. Jetzt begann für die Stadt eine Friedenszeit und Blüte, in der sie ihre wirtschaftliche und künstlerische Kraft entfalten konnte und die im Grunde bis auf den heutigen Tag ausstrahlt. Strateburgum, "Stadt an den Straßen", wie sie bald heißen sollte, erhielt ein Hoflager und wurde häufiger Aufenthaltsort der fränkischen Könige. Gegen 640 wählte der Herzog von Elsaß sie zu seinem Sitz und machte sie so zum Zentrum seines Fürstentums.

          Das Christentum hat die Stadt erst spät erreicht, und seine Entfaltung wurde durch die wiederholten Germaneneinfälle stark beeinträchtigt. Die erste christliche Kirche richtete man vermutlich in einer römischen Basilika an der Stelle der heutigen Église St. Étienne ein, in der Ostecke von Insel und Römerkastell. Ein erster Bischof von Straßburg ist im Jahre 343 erwähnt. Mit dem Abzug der Römer 406 und der Übernahme der Stadt durch die Alemannen waren heidnische Bräuche zurückgekehrt. Erst die Taufe Chlodwigs im Jahre 496, nach dem Sieg über die Alemannen, brachte das Christentum wieder. Die christlichen Missionare, die jetzt, oft von weither, etwa aus Irland kommend, das Merowingerreich als einen besonders fruchtbaren "Ackerboden" durchzogen, übersahen auch die Stadt auf der Insel in der Ill nicht. Es war der hl. Arbogast, der sich hier niederließ und von hier aus das umliegende Land planmäßig christianisierte.

          Wahrscheinlich bereits seit dieser Zeit steht die Bischofskirche Straßburgs, der Jungfrau Maria geweiht, an der Stelle des heutigen Münsters und damit dort, wo sich einstmals das keltische Heiligtum befand. Bischof Arbogast soll hier gegen 550 eine Kirche aus Holz errichtet haben.

          In der Zeit der Karolinger finden wir an demselben Platz bereits eine stattliche, steinerne Bischofskirche. Wie dieser Bau aussah, der wahrscheinlich im späten 8. Jahrhundert begonnen wurde (die Anlage einer Krypta ist im Jahre 778 urkundlich erwähnt), wissen wir in groben Zügen aus einem literarischen Zeugnis: einem Lobgedicht von Mönch Ermold dem Schwarzen auf seinen Kaiser Ludwig den Frommen, den Sohn Karls des Großen, aus dem Jahre 826. Nach Ermolds Beschreibung darf man einen Grundriß annehmen, der ähnlich demjenigen der Klosterkirche in St.Gallen von 818 angelegt war: ein dreischiffiges Langhaus ist sowohl im Osten als auch im Westen von einer halbrunden Apsis eingerahmt. Auf der Westseite ist zwischen Langhaus und Apsis eine Vorhalle (Narthex) eingeschoben, außen sind dieser Schmalseite der Kirche zwei Türme vorgestellt. Wir finden also schon hier, in dieser frühesten überlieferten Zeugnis, eine Reihe von Merkmalen vorgebildet, die sich bis in die Architektur des heutigen Münsters erhalten haben.

          Karl der Große, der es geschafft hatte, fast das gesamte westliche Europa in seinem riesigen Frankenreiche zu vereinen und der mit seiner Krönung in Rom im Jahr 800 durch Papst Leo III. sogar die Tradition der Weströmischen Kaiser wiederaufnahm, ist heute zu einem Symbol europäischen Denkens geworden. Alljährlich wird in Aachen, im Kaiserdom, in seinem Namen ein Preis an eine Persönlichkeit aus dem politischen Leben verliehen, die sich um die Einigung Europas verdient gemacht hat. Der Name Straßburgs dagegen ist zur Karolingerzeit mit einem anderen, eher entgegengerichteten Ereignis verknüpft: hier schworen im Jahre 842 Karl der Kahle und Ludwig der Deutsche, zwei der drei Söhne Ludwigs des Frommen, einen Bündniseid, der gegen den dritten von ihnen, Lothar, gerichtet war. Die sog. Straßburger Eide stellen das älteste schriftliche Zeugnis sowohl der altdeutschen als auch der altfranzösischen Literatur dar, da sich zur besseren Verständlichkeit gegenüber den versammelten Rittern jeder von beiden der Sprache des anderen bediente. Ein Jahr später, im Vertrag von Verdun, wurde das Reich Karls des Großen endgültig geteilt, in ein französisches Westfranken und ein deutsches Ostfranken sowie ein Lotharingisches Mittelreich, zu dem auch Straßburg gehörte. Letzteres sollte bald von den beiden anderen aufgesogen werden, blieb aber bis in die jüngste Zeit ein Zankapfel (Elsaß/Lothringen). So war also gerade in Straßburg der Grundstein für eine Spaltung gelegt worden, unter der diese Stadt und mit ihr ganz Europa bis ins 20. Jahrhundert hinein leiden sollte. Umso bedeutsamer ist es vor diesem Hintergrund, daß gerade Straßburg heute zu einer Stadt der Verständigung, der Versöhnung und der erneuten Einigung geworden ist.

 

 

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