Pisa © Roland Salz 2000 - 2015
Roland Salz                                                                      
                                                                      Meditationen über Architektur

XXI. Von wortgewaltigen Predigern und anderen Merkwürdigkeiten aus dem Münsterleben

 

Zwar war das Münster im hohen Mittelalter über und über mit Heiligenaltären besetzt, man kann von insgesamt mehr als fünfzig (!) ausgehen, doch fehlte im Langhaus lange Zeit eine Kanzel. Das Predigen war Sache der Pfarrgemeinde des hl. Laurentius, und so stand die Kanzel ursprünglich im Nordflügel des Querhauses. Im ausgehenden 15. Jahrhundert jedoch wirkte im Straßburger Münster ein Prediger, der eine solche Anziehungskraft auf die Bevölkerung ausübte, daß über den Ort der Aufstellung der Kanzel neu nachgedacht werden mußte. Seit 1478 hatte Johann Geiler von Kaysersberg seine stetig anwachsende Zuhörerschaft im Münster mit emphatischen Bibelauslegungen beeindruckt, an deren konkretem Bezug zu den Zuständen seiner Epoche er es nicht fehlen ließ. 1484 beauftragte der Stadtrat daher den Baumeister Hans Hammer, eine Kanzel zu entwerfen, die am nördlichen Pfeiler zwischen dem dritten und vierten Joch des Langhauses aufgestellt werden sollte, damit von hier aus weit mehr Gläubige den Predigten lauschen konnten. Von dieser Kanzel ist zwar nicht der reich skulptierte Schalldeckel, wohl aber der Korb und sein Unterbau weitgehend erhalten und am Ort verblieben. Die Kanzel stellt eines der eindrucksvollsten Zeugnisse spätgotischer Skulptur überhaupt dar.

          Der in etwa drei Metern Höhe aufgestellte Kanzelkorb zeigt nach außen hin die Form eines Prismas auf hexagonalem Grundriß. Seine fünf geschlossenen Brüstungsseiten reichen einheitlich bis zur Pulthöhe. Getragen wird der Korb von einer deutlich schmaleren, wiederum hexagonalen Kernstütze, die ihrerseits von sechs schlanken Außenstützen, aufgestellt in Verlängerung der Kanten des Korbs, umgeben ist. Der zweiläufige Treppenaufgang ist an seinem Absatz von einer weiteren niedrigen Stütze getragen.

          Sowohl in die Brüstungsseiten des Korbs als auch in dessen Kernstütze sind tiefe Nischen eingeschnitten, in die, auf kleine Sockel und unter Baldachine, Heiligenfiguren eingestellt sind. Zusätzlich sind auch an den schlanken Außenstützen Figuren in großer Zahl und unterschiedlicher Größe angebracht. Insgesamt über fünfzig ausgesprochen fein gemeißelte Skulpturen umgeben auf diese Weise die Kanzel. Ihre vielen Baldachine sind jeder für sich in Maßwerkarkaden aufgebrochen, mit unzähligen von winzigen Fialen, Kreuz- und Kriechblumen, die sich - im Verschmelzen der Baldachine untereinander - fast zu so etwas wie einer Kreuz- und Kriech-"Blumenwiese" entwickeln. Maßwerkdurchbrochen sind aber auch die Treppenbrüstungen sowie ein breites steinernes Band, daß sich unter dem Korb um die sechs Außenstützen herumzieht. Das ganze Geflecht wirkt so filigran, daß man fast an Elfenbeinschnitzerei erinnert wird. Und tatsächlich sind einige der Figuren schon nicht mehr in Stein, sondern in Alabaster ausgeführt.

          Unter den vielen Evangelisten, Aposteln und sonstigen Heiligen, die sich meist gut durch ihre Attribute identifizieren lassen, fällt eine recht ungewöhnliche Skulptur auf. In der untersten Maßwerköffnung der Brüstung über dem Treppenabsatz liegt, mit dem Kopf auf dem äußeren Rahmen ruhend, ein kleiner Hund. Er gibt den Anschein, als befinde er sich in einem Schlummerzustand, zur Hälfte in seiner schützenden Maßwerk-"Hütte" liegend, nur mit dem Kopf nach draußen gewandt. Die breiten Ohren hängen schlapp über die Vorderläufe.

          Meister Hammer hat hier den kleinen, treuen Begleiter des Johann Geiler verewigt, der diesem selbst bei seinen Predigten nicht von der Seite zu weichen, sondern sich zu Füßen der Kanzeltreppe niederzulegen pflegte. In der Regel wird er dort geschlummert haben, so wie uns von Hammer dargestellt. Er konnte aber auch, etwa wenn sein Herrchen sich allzusehr über die Mißstände im Kirchsprengel ereiferte und sich sein Zorn zu weithin donnerndem Getöse erhob, diesen seinerseits durch lautes Gekläffe unterstützen.

          Wer sich nun darüber wundert, was ein Hund im Münster zu suchen hat, der sollte einmal versuchen, sich in der ehrwürdigen Bischofskirche nicht nur das gleichzeitige Gebell einer Vielzahl von Hunden, sondern zum Beispiel auch Gänsegeschnatter, das Blöken von Schafen oder gar Schweinegrunzen vorzustellen. Dies muß man nämlich, wenn man einen Eindruck vom mittelalterlichen Münsterleben bekommen will. Tatsächlich war es im hohen Mittelalter alles andere als verboten, seine Haustiere zu den Messen mitzubringen, außerhalb von ihnen sogar kleinere Herden von Nutztieren. Erst im 15. Jahrhundert untersagte man es, Schweine durch das Münster zu treiben, wenn der einzige Grund dafür die Abkürzung des Weges war.

          Nicht immer verstehen wir heute leicht, als Menschen des 21. Jahrhunderts, was die mittelalterlichen Kirchenbaumeister mit ihren vielfältigen und überaus reichen bildlichen Darstellungen bezweckten. Wir sind Kinder, Enkel und Urenkel der Generationen vorangegangener Jahrhunderte, in denen Ansichten aufkamen, die in uns bis heute nachwirken, von deren manchen wir uns bis heute nicht befreit haben. Im 18. Jahrhundert empfand man die an die Handläufe der Treppenbrüstungen der Kanzel gemeißelten Darstellungen, Drôlerien genannt, wie man sie sonst oft in geschnitzter Form an Chorgestühlen findet, als anstößig und haute sie kurzerhand ab. Was etwa, so fragte man sich nämlich, hatte dort die Darstellung eines auf einer Nonne liegenden Mönches zu suchen, zumal wenn der sich gerade anschickte, den Rock jener anzuheben, und beide Figuren bei diesem Unterfangen ein relativ vergnügliches Gesicht zu machen schienen?

          Und trotzdem: es ist doch wenig wahrscheinlich, daß nicht auch in dieser Szene ein tieferer Sinn, letzten Endes vielleicht durchaus im Einklang mit dem Gebot christlicher Frömmigkeit, angelegt war. Vielleicht ist uns unser übermächtiger Rationalismus - dessen historische Verdienste natürlich nicht in Frage gestellt werden sollen - heute doch auch in mancherlei Hinsicht im Weg, und wir verstehen Zusammenhänge nicht mehr, die für die Menschen des Mittelalters offensichtlich waren. Warum etwa, so könnte man doch fragen, befanden sich diese Drôlerien in den Kirchen immer gerade dort, wo ausgerechnet jene täglich auf sie aufmerksam werden mußten, die sich so vorbildlich der Enthaltsamkeit verschrieben hatten?

          Das Phänomen des scheinbaren Paradoxes begegnet uns beim Studium des mittelalterlichen Kirchenlebens so oft und so frappierend, daß wir zu der Überzeugung kommen müssen, hier keine interessante Verzierung, keinen letztlich bedeutungslosen Schnörkel vor uns zu haben, sondern ein Element von fundamentaler Wichtigkeit, ohne dessen Verständnis auch die tiefe mittelalterliche Frömmigkeit, in ihrer Ausprägung als Mystik zum Beispiel, nicht richtig gewürdigt werden kann.

 

 

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